Sonntag, 15. Juni 2014

Pura vida

Der autistische Zauberer hielt wieder Audienz in einem programmierten Spitzenspiel. Die erste wirklich große Überraschung folgte der ersten großen Überraschung und ein märchenhaftes Costa Rica zerstört die unnötigen Urus. Wann wird diese WM endlich fad?


Es war ein unmenschlicher Tag, selbst für die beflissensten WM-Schauer. Denn das nach allen Regeln der Wahrscheinlichkeit beste Spiel (England gegen Italien) sollte erst um zwölf Uhr nachts zu sehen sein. Davor war man angehalten, sich mit Kolumbien gegen Griechenland und Costa Rica gegen Uruguay zu beschäftigen. Wir kennen diese WM jetzt drei Tage und mittlerweile wissen wir, dass sie uns keine Spiele schenkt, die nicht sehenswert wären. Aber wer dann noch Japan gegen Elfenbeinküste erlebt hat, muss sich einen Suchtvorwurf gefallen lassen.

COL - GRE 3:0

Doch auch gestern begeisterten selbst die "kleinen Spiele": Die beherzt auftretenden Kolumbianer verzückten nicht nur ihre Fans, die wiederum uns verzückten, sondern lösten ein, was mancher vorher schon für möglich gehalten hat: Dass hier die wahrscheinlich beste kolumbianische Mannschaft seit Jahren antritt. Griechenland ist ja nicht gerade als spielerischer Crowd-Pleaser bekannt und wenn so ein Team im ersten Spiel von einer erfrischenden, launig aufspielenden halb-exotischen Mannschaft aufgemischt wird, deren Fans vor Ort durch ihren einzigartigen Enthusiasmus jeden in Begeisterung versetzen, dann läuft etwas richtig!

Ich weiß nicht, ob man ihnen deswegen allzu viel zutrauen sollte. Aber sie surfen jetzt auf einer Welle, die sie selbst erzeugt haben. Denn Kolumbien verkörpert das, was Kamerun sein könnte, wenn ihnen nur das Fußballspiel ein wenig wichtiger wäre als interne Hahnenkämpfe und Selbstmitleid. Sie lassen sich tragen von der eigenen Begeisterung am Spiel und der ihrer Anhänger. Wir freuen uns schon auf den nächsten Auftritt dieser sympathisch aufspielenden Truppe aus der zweiten Reihe der südamerikanischen Teams, für die das heuer alle irgendwie eine Heim-WM werden könnte. Die Stimmung jedenfalls passt schon mal.

(Später hat in dieser Gruppe noch die Elfenbeinküste einen 0:1-Rückstand gegen Japan aufgeholt. Aber diese Partie dürften wohl nur ein paar Schichtarbeiter gesehen haben...)


URU - CRC 1:3

Nach der "ersten großen Überraschung", dem Kantersieg der Niederländer gegen Spanien, folgte tags darauf die "erste wirklich große Überraschung" - die Niederlage des WM-Vierten gegen den kompletten Außenseiter Costa Rica. Uruguay heißt heuer dauernd "der Weltmeister von 1950", was eigentlich lächerlich wäre, gäbe es da nicht die Geschichte mit dem Finale gegen Brasilien im Maracana-Stadion, die als  das große Trauma das brasilianische Fußballselbstverständnis quält. Aber der "Weltmeister von 1950" wird der Weltmeister von 1950 bleiben, denn die Gruppe D ist nicht nur nominell zu stark besetzt. Wer sich von Costa Rica so vorführen lässt, der hat große Mängel zu beseitigen! Das wird sich in den kommenden drei Spielen aber nicht bewerkstelligen lassen. Die Einschätzung, dass Uruguay weit von der Form von vor vier Jahren entfernt ist, hat sich als richtig erwiesen. Und das ist gut so.

Denn die unsympathischen Urus sind Faulenzer und Falschspieler. Ihr uninteressiertes und uninspiriertes Auftreten gipfelte im Sinnlosfoul von Perreira, der daraufhin die erste rote Karte des Turniers sah. Neben Suarez, den ich seit dem Spiel gegen Ghana hasse, und der sich nie mehr rehabilitiert hat, hab ich nun auch in Diego Lugano einen "Buhru" erkannt. Mit den gestern unsichtbaren Diego Forlan konnte ich ohnehin nie wirklich was anfangen, auch wenn er noch der Erträglichste der Urus war. Uruguays veritabler Höhenflug findet nach der nicht überzeugenden Qualifikation hier in Brasilien endgültig sein Ende, und das ist gut so.

Ein Märchen hingegen wurde für Costa Rica war. Die Ticos, deren Philosophie des "pura vida", des reinen Lebens, im Fußball so zum Ausdruck kommt, dass man die Außenseiterrolle genießt, weil man so in einer schweren Gruppe unbeschwert aufspielen kann, haben ein Ausrufezeichen gesetzt. Ich bezweifle, dass noch ein weiterer Glanzpunkt folgen wird, aber England und Italien haben gesehen, dass man sich keine müde Partie leisten kann gegen vermeintliche Fußballzwerge. Nicht bei dieser WM! Dass die Gefahr eines nachlässigen Auftretens aber gar nicht so groß ist, zeigten die beiden europäischen Mannschaften am Abend im "Rumble in the Jungle", im Amazonas-Stadion von Manaus.


ENG - ITA 1:2


Wieder war es Andrea Pirlo, dessen faszinierender Präsenz ich meine Blicke vor allem widmete; sieht er doch aus wie ein Magier, ein Druide, Naturgott des Schlenzers, Beherrscher des Raumes, der erst entsteht, weil er ihn kreiert. Freilich ist er auch ein Magier, und am besten wird sich gestern Joe Hart, der englische Torhüter daran erinnert haben. Denn es war Pirlo, der ihn in einem denkwürdigen Elfmeterschießen mit einem Schmäh düpiert hat, obwohl Hart eigentlich ihn (oder wie Schneckerl sagen würde: ihm) am Schmäh halten wollte. Aber nicht mit Pirlo, dem Allmächtigen!

Eigentlich sieht Andrea Pirlo aus wie ein Psycho; einer, der dich streichelt, während er dir langsam die Luft wegdrückt, und der dabei kaum merklich lächelt - aber nur mit dem Mund und nie mit den Augen! Pirlo, der das Aufwärmen vor dem Match als Masturbation für Konditionstrainer ansieht, trabt wie ein Hüftkranker über den Platz und beobachtet stoisch den Ball. Dann bekommt er ihn, dreht sich um und schlägt einen Pass in einen Raum, der vorher nicht da war. Jemand, der das zum ersten Mal sieht, muss sich vorkommen wie in der Matrix. Aber nicht nur, dass er den Pass perfekt und schlau spielt, er nimmt mit seinem Pass auch die folgende Aktion des Passempfängers vorweg. Ja, er spielt den Pass so, dass der Empfänger den Ball gar nicht anders annehmen kann als so, dass er mit dem nächsten Schritt genau das macht, was Pirlo mit ihm vorhatte. Es ist, als passte sich Pirlo selbst zu. Vielleicht lernt man sowas beim vielen Playstation spielen, denn genau so sieht es aus, wenn Pirlo spielt: Wie ein sauguter Playstation-Zocker, der mehrere Spieler gleichzeitig kontrolliert.

Ich weiß nicht, wie Pirlo reagiert, wenn er auf der Playstation ein Tor erzielt. Im wahren Match, bei der WM, jedenfalls passiert folgendes: In einem einstudierten Eckball-Trick steigt Pirlo aus dem Lauf über den auf ihn zurollenden Ball drüber und lässt ihn so zu Marchisio durch. Dabei folgen zwei bis drei englische Abwehrspieler dem Laufweg Pirlos und räumen so das Schussfeld für Marchisio, der draufhält und trifft. Für solche Aktionen muss es irgendeine geheime Tastenkombination geben, denn es sieht alles so natürlich und harmonisch aus, dass sich sogar der, der den Trick schon kennt, verarscht vorkommen muss. Beim Torjubel dann trottet Pirlo auf die Traube der Jubelnden zu und lässt sich hineinfallen wie ein Autist, der gelernt hat, dass man so ein Tor zu feiern hat. In seinem Gesicht aber regt sich nichts. Er schaut drein wie jemand, dem man erzählt, man habe im Fell seiner Katze eine Zecke gefunden.
Beeindruckend war auch eine andere Szene, in der Pirlo erneut genial zu Balotelli abspielt. Der versucht sich dann an einem saufrechen, aber eben auch sauguten Heber, der gerade noch weggeschlagen werden kann. Das sind Aktionen, die daran erinnern, was diese Mannschaft vor zwei Jahren bei der Euro gezeigt hat: Das Spiel der Kinder. Nicht Catenaccio, sondern Calcio!

Beeindruckend war aber auch diese junge englische Mannschaft. Vor allem Sterling und Sturridge, letzterer Schütze zum postwendenden Ausgleich nach Rooney-Flanke. Ersterer erinnert mit seiner Unbekümmertheit trotz jungen Alters an David Alaba. Rooney hingegen ist wieder einmal ein Schatten seiner selbst. (Bezeichnend war sein Eckball ins Toraus!) Und auch der alte Gerrard hat schon einmal bessere Zeiten gehabt, auch wenn er nach wie vor dem englischen Spiel vor allem in der Abwehr Stabilität gibt. Seine bezeichnende Szene: Beim Spielaufbau stolpert er über den Schiedsrichter; die Folge ist ein Ballverlust...

Es ist schön zu sehen, wie England blitzschnell über die Seiten kommt und dann mit hohen Bällen vors Tor den Abschluss sucht. Klassisches Kick and Rush sieht stumpfer aus; das ist eine moderne Variante davon, die enormen Druck auf die Außen des Gegners machen kann. Auch die Schüsse aus der zweiten Reihe (Henderson, Sterling) sind wie Erinnerungen an eine Zeit, in der Fußball noch weniger kompliziert war. Wenn England so weiter macht, wird es auch was mit dem Elfmeterschießen in der KO-Phase.


Italien agiert wieder erstaunlich abgeklärt. Es gibt kaum eine Spielsituation, in der die Italiener unsicher wirken. Einzige Ausnahme ist Gabriel Paletta, der fast zwei Elfer verschuldet hätte und einmal bei einer Rooney-Chance die Abseitsfalle aufgehoben hat. Er hat schütteres Haar und das werden auch bald die Italien-Fans haben, wenn sie ihm weiter bei solchen Aktionen zusehen müssen und zurecht ihre Haare raufen.


Im Großen und Ganzen war das ein richtig geiles Match von beiden Mannschaften. England hätte sich zwar den Ausgleich verdient, aber trotz Auftaktniederlage muss man sich um die Engländer keine Sorgen machen. Es waren unterschiedliche Ansätze zweier Mannschaften, die sich beim Aufeinandertreffen nicht gegenseitig aufheben oder zerstören. Es war eine weitere Einlösung eines großen Versprechens, das die Partie "England gegen Italien" immer war und immer sein wird.
Und es endete mit einem weiteren Streich des Magiers: Ein Pirlo-Freistoß fliegt über die Mauer, Tormann Hart bewegt sich in sein rechtes Eck. Aber just als er dorthin eilen will, scheint es sich der Ball anders zu überlegen und steuert auf das linke Eck zu. Er trifft dort nur die Latte. Pirlo blickt mit leeren Auge hinterher. Auf der Playstation hat das besser funktioniert...

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