Mittwoch, 25. Juni 2014

Fleisch und Knochen

Da ist ja wirklich alles dabe, bei dieser WM. Aber wie viel kann der Zuschauer überhaupt ertragen? Langsam wird's wahnsinnig...


Ich habe gegen Anfang dieser WM geschrieben, dass wir bald wissen werden, wer die Helden und Schurken dieses Turniers sein werden. Die letzten beiden Tage haben uns diesbezüglich einen sehr deutlichen Hinweis gegeben. Auch wenn wir dazu neigen, im Sinne einer dramatischen Inszenierung gerne Schwarz-weiß-Malerei zu betreiben: Ganz astreine Helden und Schurken produziert dieses Großereignis natürlich nicht. Und nach einer bisher atemberaubenden Vorrunde droht die WM ein allzu vorhersehbares Ende zu nehmen...


BRA - CAM 4:1


Das war also die große Neymar-Show. Und wie beeindruckend sie war! Nicht nur, dass der Manga-Neymar zwei Tore geschossen hat und jetzt wieder die Torschützenliste anführt. Nein, er hat auch deutlich gezeigt, dass ohne ihn bei Brasilien recht wenig geht. Der Stoff, aus dem Helden sind: Einer nimmt sich der Sache an, hat Mut und reißt die anderen mit. Tatsächlich hat Neymar gewirkt als wäre die WM für ihn eine einzige unbeschwerte Party. Er war gut drauf, ließ sich zu Scherzen hinreißen, posierte in der Halbzeitpause für Fotos auf dem Weg in die Kabine... Neymar, das WM-Maskottchen. Etwas besseres kann dem Turnier, vor allem aus brasilianischer Sicht, nicht passieren.

Und trotzdem bleibt ein fahler Beigeschmack. Irgendwie ist Neymar zu wenig "Fleisch und Knochen", wie Oli Kahn es in Bezug auf etwas ganz anderes formuliert hat (s.u.). Er ist tatsächlich ein Maskottchen, er sieht nicht nur so aus. Klar, er macht seine Tore. Aber die Abhängigkeit der Brasilianer (sowohl auf dem Platz als auch emotional) ist gefährlich. Siehe Argentinien, das ohne Messi überhaupt nicht funktioniert. Auch Messi hat bis jetzt "geliefert", ohne dass er gut gespielt hätte. Rein von den Ergebnissen her kann man weder Neymar noch Messi irgendeinen Vorwurf machen. Allein, es kommt mir alles zu wenig vor. Wenn aber Brasilien so weitermacht, dann werden sie Weltmeister, getragen von einer Welle der Begeisterung, wie nur Neymar sie auszulösen vermag. Und sonst werden sie halt Weltmeister der Herzen...


NED - CHI 2:0


Apropos Weltmeister der Herzen. Das ist Holland ja seit dem letzten WM-Finale nicht mehr. Und immer noch fällt dem ORF-Kommentator (ich glaube, es war Oliver Polzer - oder Boris Kastner-Jirka, ich kann die beiden Mickymaus-Stimmen eh nie auseinander halten) zu Nigel de Jong nichts anderes ein als irgendwas mit "Kung-Fu"-Attacke etc. Weil das ewige Herumreiten auf vorgefertigen Schemata nervt (de Jong ein übler Treter, Robben hat nur Einser-Schmäh etc.), schalte ich auf ZDF um und bin erleichtert, als keine zwei Minuten später der dortige Kommentator de Jongs Stellungsspiel und Übersicht lobt. Dass ein Sechser oft ein Raubein ist, ist geschenkt. Dass de Jong nicht immer die angenehmsten Fouls begeht, auch. Aber wenn einem zu diesem Spieler nicht mehr einfällt, dann bedient man Gemeinplätze und spielt Kronenzeitung.

Ansonsten haben die Niederländer wieder gezeigt, dass sie auch mit einem destruktiven Ansatz so gewinnen können, dass es aussieht, als hätten sie das Spiel tatsächlich dominiert. Eine Lehrstunde für alle zukünftigen Gegner von Chile war das allemal. Und Holland schlingert bei diesem Turnier irgendwo zwischen 2008 und 2010 umher, mit leichten 2012-Phasen. Soll heißen: Ein aufregendes, offensivbetontes Spiel nach vorne wechselt sich mit einem vorsichtigem, abwartendem Defensiv- und Kontergeplänkel ab, und dann und wann gibt es Phasen, in denen weder vorne noch hinten irgendwas zusammenläuft. Insofern ist Holland schwer einzuschätzen, obwohl sie bis jetzt die einzige Mannschaft mit drei Siegen ist. Vom Finale bis zum Ausscheiden im Achtelfinale ist jetzt alles drin!


ITA - URU 0:1


Ich habe weiter oben geschrieben, dass nun alles danach aussieht, dass diese WM ein allzu vorhersehbares Ende nimmt. Das Ausscheiden Italiens ist ein erstes Anzeichen dafür, denn tatsächlich scheint sich der prognostizierte Südamerika-Vorteil bemerkbar zu machen. Uruguay hat nach einem total versemmelten ersten Spiel und einem furiosen zweiten nun die Aufgabe gehabt, die italienische Abwehr zu knacken. Denn Italien hätte zum Weiterkommen nur ein Unentschieden benötigt, und schnell war klar, dass genau das ihr Ziel war: das 0:0 zu halten. Das war mir ein bisschen zu viel Italien, wie es früher einmal gewesen ist. Auch hier zu wenig "Fleisch und Knochen", mehr bröseliges Gerippe. Uruguay tat sich trotzdem schwer, bekam aber ein Geschenk vom Schiedsrichter, der Marchisio nach einem normalen Gelb-Foul mit der roten Karte bediente. Urs Meier und Oli Kahn in der Analyse der Situation: Nicht rot-würdig, weil nicht zur bisherigen Linie des Turniers passend, der Wichtigkeit des Spiels nicht angemessen, und überhaupt das Foul hatte "zu wenig Fleisch und Knochen" (Kahn).

Egal, Italien zu zehnt spielt wie Italien zu elft, wenn es nur verteidigen muss. Dass dann Suarez, nachdem er sich im Spiel gegen England zum Helden seines Landes gemacht hat, Chiellini in die Schulter beißt, und das natürlich niemand gesehen hat, ist typisch. Es erinnert mich an meine Kindheit und die vielen Wrestling-Matches, die man gesehen hat, von denen man glaubte, sie wären nicht inszeniert. Da lenkt der Manager des Bösewichts den Ringrichter ab, während der Bösewicht dem Guten einen Klappstuhl um die Ohren schlägt. Umgekehrt wird jede fragwürdige Aktion des Guten sofort vom Ringrichter abgemahnt. Meist endet es damit, dass beide Akteuere erschöpft am Boden liegen, samt Ringrichter, weil auch der bei irgendeiner Aktion bewusstlos geworden war, und der Gute versucht einen Pin, den der Ringrichter aber nicht zählen kann, weil er ja noch so benommen ist. Da kommt dann der Manager des Bösen mit Klappstuhl, schlägt ihm den Guten auf den Kopf, der Böse erwacht gleichzeitig mit dem Ringrichter aus der Bewusstlosigkeit, pinnt den Guten und der Kampf ist gewonnen. So, oder so ähnlich war es auch mit Suarez und Uruguay.


Italiens Ausscheiden ist traurig, weil immer noch die erste halbfinalreife Partie gegen England nachklingt. Und das betrifft beide Mannschaften. Italiens Ausscheiden geht aber auch in Ordnung, das haben die letzten beiden Partien gezeigt. Dass jetzt der Außenseiter Costa Rica und das grausige Uruguay weiter sind, ist hoffentlich keine Plotkonstruktion, die den Rest des Turniers halten wird. Denn letzt läuft diese WM Gefahr, zu kippen: Jetzt kann es so sein, dass immer die Mannschaft, die man sich zu seinem momentanen Favoriten erwählt hat, gegen eine Pfui-Mannschaft ausscheidet. Vorsicht also Frankreich, vorsicht Holland! Ich halte große Stücke auf euch!
Und am Ende steht Deutschland gegen Brasilien im Finale und sie revanchieren sich für die verpatzte Heim-WM vor 8 Jahren. Ein schweißtreibender Albtraum! Denn bei aller spielerischer Fragwürdigkeit, darf man nicht vergessen, dass Deutschland eines hat: Fleisch und Knochen!



Held der letzten zwei Tage:
Neymar, der Unbeschwerte. Nur, wenn er bis zum Schluss so weitermacht, kauf ich ihm den Schmäh ab.

Buhmann der letzten zwei Tage:
Luis Suarez, wer sonst? Die Hackfresse von Uruguay, der Beißer von Natal - ein Mensch aus Fleisch und Knochen, doch ohne jede Moral.

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