Freitag, 13. Juni 2014

Heimvorteil

Erst ein Spiel gespielt und die Wogen gehen schon wieder hoch. Und auch, wenn es für die Kroaten ärgerlich war, stimmten am Ende Ergebnis und Erwartung überein.



Es ist WM, es ist Eröffnungsspiel, das Stadion kocht, bebt und zittert. Nicht allein, weil es noch nicht fertig gestellt ist, sondern weil gefühlt halb Brasilien in der Arena Corinthians in Sao Paolo Platz gefunden hat. Die andere gefühlte Hälfte liefert sich wohl irgendwo Straßenschlachten mit der Polizei, aber davon ist am Rasen nichts zu spüren als die Selecao ihre Hymne gegen die Menge plärrt. Das Abfahren der Gesichter mit der Kamera während der Hymne ist ja eigentlich eine Desavouierung des Heldenhaften noch bevor die Spieler die Chance hatten, irgendwas Heldenhaftes zu vollbringen. Da gibt es angestrengte Sänger, die bei jeder Silbe kräftig Luft holen, um noch mehr Kraft in ihr Geplärre hineinzubringen. Da gibt es die bloßen Lippenbeweger, die konsequenten Schweiger, die zu cool zum Singen sind. Und es gibt die Tenöre, die brav und laut (wenn auch nicht besonders schön) singen. Und es gibt Neymar, den es die Tränen in die Augen drückt.

Was konnte man an diesen Gesichtern ablesen? Zunächst, dass es prinzipiell vier Typen Brasilianer gibt: Den Wuschelkopf, der meistens in der Verteidigung spielt (siehe David Luiz, Marcelo, Dante); Dann gibt es den Berserker (Maicon, Hulk, Dani Alves), der alles niederrent, was es zum Niederrennen gibt, einschließlich sich selber. Weiters im Aufgebot steht der Typus des unansehnlichen Talents (siehe Thiago Silvas Wurstlippe oder die seltsam arabeske Physiognomie Luiz Gustavos). Der Rest der Mannschaft ist das, was man in Österreich "Zniachtal" nennt. Das sind harmlos wirkende Schwächlinge, die man erst belächelt. Wie in einem Computerspiel sind es aber freilich die, die am gefährlichsten sind: Neymar, die brasilianische Manga-Figur, ist so einer, aber auch Oscar, Bernard und der Buchhalter-Typus Fred. Traut man denen den WM-Titel zu? - Muss man, denn brasilianische Nationalmannschaften haben schon seit jeher immer gleich ausgesehen. Das konnte man an den Bildern von Cafu und Kaka auf der Tribüne erkennen.



Die Selecao begann zaghaft, zu gut standen die Kroaten zu Beginn in der eigenen Hälfte. Es war, als hofften die Brasilianer darauf, dass der Schiedsrichter nur anzupfeifen brauchte und auf einmal würden sich ihre Beine von selbst bewegen und der Ball ganz von allein und zauberhaft ins gegnerische Tor rollen. Doch die Euphorie der Fans vor dem Auftaktmatch wollte auch von Aktionen auf dem Feld begleitet werden. Das zu erkennen kostete den Brasilianern etwas Zeit. Jetzt war es vorbei mit Samba und Halligalli, jetzt musste guter Fußball gespielt werden!

Die Kroaten nutzten den Druck, unter den Brasilien zu stehen schien, gut aus, zogen sich zurück und warteten ab, um dann im rechten Moment gefährliche Konter zu fahren. Brasilien blieb zwar über weiter Strecken die spielbestimmende Mannschaft, schien aber zunächst mehr Schwierigkeiten mit sich selbst zu haben als mit dem Gegner.

Dann kam es zur großen Katastrophe: Im Auftaktspiel der Heim-WM passierte Marcelo das ultimative Missgeschick, und die Kroaten gingen durch sein Eigentor 1:0 in Führung. Wie man so oft sagt, tut ein solches Führungstor für den Underdog dem Spiel gut. Gestern hatte es zumindest den Effekt, dass Brasilien endgültig erkannte, dass nichts von alleine geht. Und dann war es ausgerechnet Neymar, der 18 Minuten später zum Ausgleich einschoss, und nicht nur sein Land und seine Mannschaft, sondern vor allem seinen Teamkollegen Marcelo von allen Ängsten erlöste.

Denn dieses 1:1 war in Wahrheit ein Führungstreffer; zumindest fühlte es sich so an. Seltsamerweise nahmen nämlich die Kroaten von ihrer gar nicht unverdienten Führung überhaupt kein Momentum mit, und verhielten sich nach dem Ausgleich auch so, als wären sie in Rückstand geraten. Ein bisschen mehr Selbstbewusstsein täte da schon gut. Leicht gesagt, denn wie erwähnt muss die Atmosphäre miteingerechnet werden: Eröffnungsspiele können für den Gegner des Gastgebers grausam sein, wenn er auch noch Außenseiter ist. Diese Erfahrung mussten die Kroaten später im Match noch einmal machen...

Dabei holte Kroatien aus dem geschwächten Kader einiges heraus. Rakitic und Modric, von dem ich immer dachte, er würde vielleicht mit kurzen Haaren besser aussehen (NOT!), agierten großartig im Mittelfeld und der unglaubliche Olic rannte ständig im Volltempo die Seitenlinien rauf und runter. Allein, es half nichts, denn spielgestalterisch war man den Brasilianern erwartungsgemäß unterlegen. Man konnte sich zwar die eine oder andere Chance herausspielen, aber was man sich von Chancen, die nicht verwertet werden, kaufen kann, weiß jeder Österreicher am besten.

Es kam, wie es kommen musste, aber eigentlich nicht kommen dürfte: Brasilien bekam einen Elfmeter zugesprochen bzw. geschenkt. Der japanische Schiedsrichter hatte die Hosen voll und sah eine Handberührung Lovrens and Buchhalter Freds Schulter als Foul an. Sein Hirn wägte wohl in den Millisekunden zwischen Freds Fall und dem Pfiff ab, ob elf erzürnte Kroaten oder tausende erzürnte Brasilianer leichter zu ertragen wären. Nishimura entschied sich für Brasilien und Neymar trat an. Der Elferkiller Pletikosa - wie hätte man es den Kroaten gewünscht, dass er den Elfmeter, der keiner hätte sein dürfen, gehalten hätte. Doch hätte, hätte, hätte - dran war er, aber es stand 2:1. Brasilien war erlöst, und wenn Neymar so weiter macht, wird die Christus-Erlöser-Statue abmontiert an ihrer Statt seine Manga-Figur hingestellt.

Das 3:1 war dann nur noch Kosmetik, obwohl die Kroaten, wütend wie sie waren, noch energische Vorstöße auf das brasilianische Tor unternahmen. Brasiliens Abwehr sah da nicht immer so glücklich aus, aber Oscars Tor in der 93. Minute fixierte den Endstand, den wohl auch viele so getippt haben.

Am Ende war Brasilien zu stark für Kroatien, das es nur ansatzweise verstand, die Unsicherheiten im brasilianischen Spiel auszunutzen. Diese werden weniger werden, das sind schlechte Nachrichten für die folgenden Gegner der Selecao. Kroatien aber darf ruhig ein bisschen mehr so sein, wie man sich die Kroaten eigentlich vorstellt: Stolz, ein wenig zu stolz und ein bisschen größenwahnsinnig vielleicht. Galten früher die Jugoslawen als die Brasilianer Europas, so braucht es für das kroatische Team genau dieses Selbstbild, um die eigenen Stärken auch im Endergebnis sichtbar zu machen. Da kommt es jedoch ungelegen, dass man jetzt dem Schiedsrichter die Schuld an der Niederlage geben kann.

Es war ein schönes, aufregendes erstes Spiel. Eigentlich ungewohnt, da Eröffnungsspiel und Finale in dem nicht unbegründeten Ruf stehen, potenziell langweilig zu sein. War das ein Vorgeschmack auf das, was noch kommt? Wenn ja, dann Prost Mahlzeit!


Held des Tages:

Der Spray! Jeder Freistoß ein Ereignis!


Buhmann des Tages:

Ja, leider der Schiedsrichter, aber ohne solche Fehlentscheidungen ist eine WM nicht mehr zu haben.Und man kann eine WM nicht nur mit europäischen Spitzenschiris bestreiten, die ich von der Kulisse und den Weltstars nicht beeindrucken lassen.
Höre ich irgendwen Videobeweis sagen? Tja, wir haben jetzt Torlinientechnologie und einen Freistoßspray. Das ist an FIFA-Maßstäben gemessen revolutionär.

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