Mittwoch, 16. Juli 2014

Was bleibt

Ein paar Sätze, die man mit "es kommt mir so vor" einleiten könnte:

Es gewinnt nicht immer der, der das erste Tor schießt.

Es gibt jetzt wirklich, wirklich, wirklich keine "Kleinen" mehr.
Gewinnen tun trotzdem immer nur die "Großen".
Die Viererkette ist nicht mehr Standard.
Manndeckung ist nicht immer "bäh".
Falsche Schiedsrichter-Entscheidungen heben sich über den gesamten Turnierverlauf gesehen auf.

Ein Superstar allein reicht nicht - manchmal aber schon.
Ein Kollektiv allein reicht auch nicht - manchmal aber schon.

Am Ende gewinnen nicht immer die Deutschen - manchmal aber schon.


Was uns von der WM 2014 in Brasilien außerdem in Erinnerung bleiben wird:


- Die Premiere des Freistoßsprays: Die ganz große Sensation war er nicht, erkannte man doch zu schnell den tatsächlichen Nutzen dieses Hilfsmittels. Zu unkompliziert ist auch die Anwendung; der Freistoßspray ist "fool proof", da gibt's keine Peinlichkeiten und keine diskussionswürdigen Situationen. Und zu mehr als "Rasierschaum" haben dann die halblustigen Assoziationen dann auch nicht gereicht. Das Gute: Er kam uns schon nach ein, zwei Spielen so normal vor wie der Seitenwechsel zur Halbzeit oder der Einwurf.

- Die Premiere der Torlinientechnologie: Zwei Premieren bei einer FIFA-Großveranstaltung, die das Spiel fairer, nachvollziehbarer machen - wer hätte das gedacht? Auch die Torlinientechnologie war ein Erfolg und brachte sogar zwei Mal Klarheit in unklaren Situationen. Blöd wäre es gewesen, hätte man sie gar nicht gebraucht. So aber hat man neben all den Diskussionen über Schiedsrichterleistungen ein Sorgenkind weniger. Tor ist ab jetzt, wenn die Uhr des Schiedsrichters brummt - und aus! Über ein schickeres Wort sollte man sich im Deutschen aber schon noch Gedanken machen. Das englische "Goal Control" hat was Lässiges. Aber weil Deutschland ja auch Weltmeister geworden ist, kann man ruhig noch vier Jahre dieses urdeutsche Wortungetüm verwenden: Torlinientechnologie. Brr.

- "Gänsehautentzündung": Mehmet Scholls Wortschöpfung nach Brasilien-Chile. Das Wort beschreibt den Dauerzustand dieser WM. Eine Gänsehautentzündung bekam man aber nicht nur wegen der vielen aufregenden Spiele, sondern auch beim ORF-Schauen. Manche finden ja Prohaskas Dativschlenzer und Pronominalferserl immer noch charmant. Der ewigen Samba-Tänzerinnen, der Capoeira-Akrobaten und vor allem der unterirdischen "Star-Gäste" wurde man aber schon nach dem ersten Mal müde. Dann noch der Vorzugsschüler Helge Payer (Frage an Marcel Koller: "Was auffällt, ist, dass immer mehr Mannschaften mit Dreier-Abwehr und Manndeckung spielen, oder?" Ja, Helge, hast dich brav vorbereitet!) und der lästige Hallo-ich-bin-auch-da-Roman Mählich.
Dann lieber ab zu ARD und ZDF, wo Kahn immer den wütenden Denker gibt und Scholl den Gerechtigkeit fordernden Ereiferer. Die Kommentatoren während der Spiele sind da wie dort schlecht, also ruhig auch mal weghören, wenn es heißt:
Bela Rethy: "Endlich mal ein Spiel, bei dem man nicht über die Temperaturen reden muss. Hier ist es kühl!"
Thomas König: "Das ist auch eine Option bei Deutschland: Sie können einen Klose bringen und ändern die Optionen."
Boris Kastner-Jirka über Lionel Messi: "Von dem wird halt mehr als nur Superstar-Niveau erwartet."
Selbiger formuliert gekonnt die Defensiv-Taktik von Russland-Teamchef Fabio Capello: "Grundsätzlich gilt für ihn als Grundsatz: Zuerst bekommen wir einmal kein Tor.
Ja, da bekommt man wahrlich eine entzündete Gänsehaut!

- Luis Suarez: Dieses Mal war es der Biss, letztes Mal war es die "echte Hand Gottes". Luis Suarez ist immer für Dummheiten gut. Aber dass man auch mit Dummheiten seinen Marktwert steigern kann bzw. sich bei einem Verein unbeliebt, bei einem anderen wiederum beliebt machen kann, zeigt sich an dem Wechsel, den Suarez zu Barcelona machen wird. Für geschätzte 94 Millionen Euro, Zahnarztkosten inklusive.

- Brasiliens Debakel: Während für Spaniens frühzeitiges Ausscheiden Holland und Chile verantwortlich sind, machte Brasilien Deutschland indirekt zum Weltmeister. Das arge Ausscheiden Brasiliens mit einem 1:7 rechtfertigt den Titel der Deutschen Mannschaft, die bis dahin keine echten Glanzpunkte setzen konnte - mit halber Ausnahme des ersten Spiels gegen Portugal. Der Symbolcharakter, den dieses Halbfinale hatte, übersteigt den sportlichen Wert bei weitem. Es war vielleicht das Spiel dieser WM, weil es Brasiliens Wunden offen legte (nicht nur die des Teams, auch jene des Landes, der brasilianischen Seele) und gleichzeitig jedem klar war, dass es jetzt nur noch einen Weltmeister geben konnte.

- Herzen in die Kamera halten: Ein mir vollkommen unerklärlicher Hype bei dieser WM war es, die Hände in Herzform in die Kamera zu halten. Das betraf vor allem Zuschauer im Stadion, die plötzlich auf der Leinwand bzw. im TV zu sehen waren, aber auch einige Spieler. Eines der Videos unten zeigt die inflationäre Verwendung dieser Liebesgeste. Ist eh nett, aber warum verschwenden Stadionbesucher ihre 3 seconds of fame damit, das zu machen, was so ziemlich jeder vor ihnen gemacht hat? Was ist mit dem guten alten Winken?

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Jetzt noch schnell ein bisschen Gänsehautentzündung holen und die großen Momente in dramatischen Bildmontagen nochmal genießen:

Das beste Video kommt (eh klar) von den Amerikanern (ESPN):



Das Video mit den Herzerln:

 

Die cinematische Variante (BBC):


Montag, 14. Juli 2014

Die Erlösung


Podolski junior mit Onkel Bastian

Das längst Fällige ist eingetreten. Ein würdiger Abschluss einer tollen WM.



Das letzte Spiel ist gespielt, die letzte Schlacht geschlagen: Deutschland ist Weltmeister. Und das zu Recht, denn das, was ich vor dem Spiel gesagt habe, dass es sich die deutsche Mannschaft aufgrund ihrer Entwicklung und den Leistungen in den letzten 10 Jahren verdient, das wurde gestern noch einmal verdeutlicht, als man die Gesichter von Klose, Schweinsteiger, Lahm und Podolski sah. Diese Hauptakteure der goldenen DFB-Generation, zusammen mit ihrem Trainer Joachim Löw, sind es, für die dieser WM-Titel so verdient kommt. Allen voran Schweinsteiger, der gestern im wichtigsten Spiel wieder die beste, die unmenschlichste Leistung zeigte. Als ich ihn vor 10 Jahren das erste Mal im Trikot der deutschen Nationalmannschaft sah, mochte ich ihn schon nicht. Damals war er ein lästiger Mittelfeldwirbler, das Trikot hing ihm fast bis zu den Knien und die Verbissenheit in seinem Gesicht mochte nicht zu seinem Alter passen.

Inzwischen hat er graue Schläfen und ist zum Leader dieser Mannschaft geworden. Eine Kampfsau sondergleichen, immer noch nicht sympathisch, aber respektabel in allen Belangen. Sein Cut unterm Auge - es passte wie die Faust aufs selbige. Sein Niederbrechen und Immer-wieder-Weitermachen in der Verlängerung - es war bezeichnend für ihn als Mensch und als Fußballer. Am Ende steht das schelmische Grinsen zusammen mit Lukas Podolski: "Schweini" und "Poldi" sind die Gallionsfiguren dieser deutschen Mannschaft. Philipp Lahm - ehemals auch so ein Knirps im zu langen Trikot - spielte diesmal zwar nicht sein bestes Turnier, aber auch er ist nun zu Recht Weltmeister. Miroslav Klose sowieso: WM-Rekordtorschütze und Spieler mit den zweitmeisten DFB-Einsätzen nach dem uneinholbaren Lothar Matthäus.

Dann die Akteure aus der zweiten Reihe: Sami Khedira und Mesut Özil - das Traummittelfeld von vor vier Jahren. Schürrle, Müller, Boateng und der großartige Manuel Neuer.

Und die Jungen, von denen man noch viel erwarten kann und muss. Goldtor-Schütze Mario Götze, das Kind. Und vor allem Toni Kroos, dem dieses Mal die Aufgabe zugefallen ist, das deutsche Mittelfeld zu stabilisieren, nachdem Khedira und Schweinsteiger verletzungsbedingt ausfielen bzw. nicht in Top-Form agieren konnten.

Und über allem thront der große Joachim Löw, der sich jetzt nicht nur FC-Tirol-Meistermacher und Stuttgart-Pokalsieger nennen darf, sondern eben auch Fußball-Weltmeister. Löw, der unbeirrt den von Klinsmann angefangenen Weg weitergegangen ist und so den deutschen Fußball von all dem Grauen befreit hat, mit dem man die Fußballwelt erschreckt hatte. Löw hat es erkannt und gestern nach dem Spiel auch nochmal gesagt "Nur mit deutschen Tugenden allein ist es nicht mehr gegangen". Und doch hat man diesen Titel auch mit diesen Tugenden gewonnen. Aber eben nicht nur. "Der Titel war fällig", meinte Löw. Und wenn man die Ergebnisse der DFB-Elf der letzten Jahre ansieht, und den Fußball genossen hat, den sie gespielt haben, muss man sagen: Da hat er Recht, der Herr Löw, zu dem jetzt so schnell keiner mehr Jogi sagt.

Zum Finale ist zu sagen, dass es vor allem in Hälfte eins wohl eines der ansehnlichsten der letzten Jahre war. Lange Zeit war für beide Mannschaften alles drin, und doch stellte man sich nicht hinten rein und wartete ab. Obwohl es bei Argentinien über weite Strecken so ausgesehen hat. Wer aber die WM bisher verfolgt hatte, wusste, dass das zu erwarten war. In den entscheidenden Situationen aber spielte Argentinien gefährliche Konter und scheiterte oft nur knapp.
Trotzdem: Ein Sieg Argentiniens wäre irgendwie nicht in Ordnung gegangen. Er hätte sich zu sehr auf diesem einen Spiel aufgehangen, das das beste der argentinischen Mannschaft bisher gewesen ist. Messi bekommt zwar nicht den WM-Pokal, wurde dafür aber zum besten Spieler des Turniers gewählt. Eine lächerliche Entscheidung, deren Trostwert zudem nicht gering genug eingeschätzt werden kann.

Deutschland ist Weltmeister und das ist gut so. Oft wurde die Christus-Erlöser-Statue an diesem Abend eingeblendet, und der Titel ist für die Deutschen auch so etwas wie eine Erlösung. Man sah es vor allem an Klose, der am längsten darauf gewartet hatte. Man sah es aber auch an Bundespräsident Gauck, der überglücklich war, so als hätte er gerade das erste Fußballspiel seines Lebens gesehen, und es war zufällig das gewesen, in dem Deutschland den WM-Titel geholt hat.
Gauck und Merkel mussten natürlich in die Kabine. Im ARD-Studio erinnert sich Mehmet Scholl an den EM-Titel von 1996, als nach dem Spiel Helmut Kohl in die Kabine kam: "Es war eng!" Und dann, in einem fast leeren Maracana-Stadion: Lukas Podolski schießt Elfmeter mit seinem kleinen Sohn. Die Tornetze sind schon abmontiert, in der Ferne stehen noch einige Fans, die jeden Schuss von Podolski junior beheulen. Das riesige Stadion, der kleine Fratz, ein lächelnder Vater, der gerade Weltmeister geworden ist: Fußball kann so schön sein - und dann wieder so bedeutungslos.

Freitag, 11. Juli 2014

Trotzdem Argentinien

Wir haben ein Finale, das nur einen Sieger kennen darf. Das ist zwar schade, aber leider auch gerecht.

 

NED - ARG 0:0 (2:4 n.E.)


Es ist soweit: Nach einem Spiel, das sich weigerte es dem Match Brasilien gegen Deutschland gleich zu tun, stand Argentinien als zweite Endspielteilnehmer fest. Holland gegen Argentinien, das war eine Abwehrschlacht zweier Mannschaften, deren Trainer die Hosen voll hatten. Es war das Match mit den wenigsten Ballberührungen im Angriffsdrittel beider Mannschaften; und es war jenes mit den wenigsten Schüssen. So verwundert es auch nicht, wenn die herausragenden Leistungen nicht von Robben und Messi erbracht wurden, sondern von Hollands Zentralverteidiger Ron Vlaar, der da hinten alles gesaugt hat, was an Angriffsbemühungen Argentiniens durch den niederländischen Abwehrwall durchdrang, und dem argentinischen Tormann Sergio Romero, der im Elfmeterschießen den Tim Krul machte. Tim Krul, der holländische Ersatztormann, der das Elferschießen gegen die Costa Ricaner zu einem Happening gemacht hatte, der aber diesmal auf der Ersatzbank bleiben musste. Denn Wechselgott van Gaal brachte sowohl de Jong als auch van Persie von Beginn an, die beide nicht fit waren und durch Clasie bzw. Huntelaar ersetzt wurden. Bruno Martins Indi musste aufgrund einer Gelbverwarnung Drayl Janmaat weichen, und so war das Wechselkontingent erschöpft - Tim Krul konnte nicht erneut zum Elfmeterkiller werden.

Ob Krul aber die Argentinier ähnlich beeindruckt hätte wie zuvor die Ticos, darf bezweifelt werden. Zwei Elfmeterschießen in Folge zu gewinnen, damit wäre überdies ein Finaleinzug auch nicht zu rechtfertigen gewesen. Holland muss froh sein, mit dieser Spielweise überhaupt so weit gekommen zu sein. 20 Minuten Offensivwillen pro Partie - das darf nicht auch noch mit einem WM-Finale belohnt werden.

"Trots" heißt 'stolz' auf Niederländisch. Ob die Niederländer so stolz sein können - ich weiß es nicht. Beachtlich war der Semifinaleinzug auf jeden Fall, weil unerwartet. Auf der anderen Seite des Stolzes steht der Trotz:

Denn was ist mit Argentinien? Mit der Albi-Celeste ist eine Mannschaft ins Finale eingezogen, die das gesamte Turnier über mit Unauffälligkeit "geglänzt" hat. Das argentinische Spiel wird von einem Trotzdem regiert. Das bedeutende Narrativ bisher war ein Messi, der zwar weit von seiner Idealform entfernt war, aber trotzdem immer spielentscheidend eingegriffen hat. Zwar hat keiner mit ihnen im Finale gerechnet, nun sind sie aber trotzdem da. Es ist eine Verwandtschaft zum deutschen Team zu erkennen, zumindest was die medialen Erwartungshaltungen an die DFB-Elf im Verhältnis zu den tatsächlichen Entsprechungen am Feld betrifft. Das Nicht-Spiel gegen die USA und die Zitterpartie gegen Algerien stehen im Zentrum dieses Bildes vom deutschen Team, das nicht zu sich findet. Überwunden wurde das dann mit Willens-Fußball gegen Frankreich und dem fulminanten Halbfinale gegen Brasilien, nach dem auffälligerweise niemand Parallelen zur Auftaktpartie gegen das desolate Portugal zog. Vielleicht, weil der Sieg gegen Brasilien im vorletzten Spiel des Turniers so viel wichtiger war. Vielleicht, weil die Mannschaftsentwicklung in den letzten Spielen so weit vorangeschritten ist, dass man nun weiß, wie und warum man sich diesen Sieg verdient hat.

Das soll heißen, dass Deutschland die gefestigtere Mannschaft ist. Nicht nur, was die Harmonie zwischen den Akteuren betrifft, sondern auch die gemeinsame Erfahrung, die man bei diesem Turnier gemacht hat. Psychologisch gesehen haben die Deutschen nämlich mehr durchzustehen gehabt als die Argentinier. Das bringt ihnen für das Finale den entscheidenden Vorteil, zusätzlich zu dem, dass man gegen Argentinien bisher gute Erfahrungen gemacht hat.

Die Argentinier wären ungeliebte Weltmeister. Nicht nur, weil sie den Titel in Brasilien holen würden. Mir fällt auch immer noch kein Argument dafür ein, dass Argentinien Weltmeister sein sollte. - Messi allein reicht nicht. Freilich, ein Spieler wie dieser verdient sich auch einen WM-Titel, ja es wäre schade, würde er keinen bekommen. Andererseits waren seine Leistungen in der Nationalmannschaft immer schon eher am bescheideneren Ende anzusiedeln. Messi ist mehr Spanier als Argentinier, er wurde bei Barcelona spielerisch sozialisiert und ist dort auch noch am besten aufgehoben. Bis jetzt musste er nie den Beweis antreten, dass er in einem anderen Team genauso funktioniert. Wie schwierig es ist, eine Nationalmannschaft um so einen Spieler herum aufzubauen, sah man vor vier Jahren und man sieht es auch dieses Mal.

Diese Aufgabe fiel Alejandro Sabello zu, einem nicht sonderlich großartigen Coach, der bis jetzt vor allem damit aufgefallen war, dass er sich von Lavezzi mit einer Trinkflasche bespritzen ließ, und einmal fast umgefallen wäre. Sabello ist bisher mit dem verhaltenen Spiel, das auf ein Messi-Wunder zu hoffen scheint, ganz gut gefahren. Die grauenhaft feige Aufstellung in der ersten Halbzeit des Spiels gegen Bosnien, konnte er aber nie wieder gut machen. Auch, wenn es heißt, er habe in Hälfte zwei auf Zuruf von Messi umgestellt. Sabello ist kein Weltmeistertrainer und ein Titel wäre auch für ihn nicht gerechtfertigt.

So bleibt uns einzig das Klangvolle, das dieses Finale hat, der Name: Deutschland gegen Argentinien. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Denn einerseits wäre Deutschland der würdigere und logischere Weltmeister, auf der anderen Seite fürchte ich mich vor zwei Dingen: Einen neuerlichen Kantersieg, den ich aber für unwahrscheinlich halte, weil das einen Freifahrtschein zum schlechten Benehmen bedeuten würde. Das andere, vor dem ich mich fürchte, wäre ein unverdienter Weltmeister Argentinien. Ein charmeloser, den dieses Turnier nicht verdient hat.

Inzwischen begnügen wir uns mit dem traurigen Spiel um Platz 3, das immer noch nicht abgeschafft wurde. Brasilien noch einmal auf den Platz zu zwingen, das grenzt an Perversion. Insofern wünsche ich der Selecao einen Sieg, der nichts besser machen würde. Und auch nicht würdiger. Aber erträglicher als eine zweite Niederlage wäre es allemal.
Ich bin gespannt, ob Holland sich im letzten Spiel nochmal zutraut so zu spielen, wie man es eigentlich immer könnte. Schließlich geht es ja um nichts, wie van Gaal immer betont...


Mittwoch, 9. Juli 2014

Gute Besserung, Brasilien!

Das traurigste Bild dieser WM

Deutsche Gründlichkeit zerstört den brasilianischen Wunderglauben - und auf einmal gibt es einen ganz klaren Favoriten!


Gerade habe ich noch behauptet, vor den Halbfinalspielen sei alles möglich. Dass diese sehr unmutige Einschätzung dann eine Bestätigung solcher Art erfahren hat, war trotzdem eher unerwartet. Es ist der zweite historische Sieg dieser Weltmeisterschaft; der erste, jener der Niederländer gegen die Spanier, markierte einen Systemwechsel und das Ende einer Ära. Der Sieg der Deutschen gegen die Brasilianer beweist, dass es im Fußball keine Wunder mehr gibt. Denn Brasilien war dem Wunderglauben anheim gefallen. Und das ist durchaus typisch brasilianisch.

Denn zum brasilianischen "Zauberfußball", der ja so im Grunde schon lange nicht mehr existiert, gesellt sich der Glaube an Zaubertricks: dass etwas aus dem Nichts entstehen kann etwa. Dass irgendein guter Geist (jener von Neymar) die Mannschaft ins Finale trägt - auf zauberhafte (und daher rational nicht nachvollziehbare) Weise.
Mir wurde schon schlecht, als ich die brasilianische Mannschaft bei der Hymne sah. Sie schienen um ihr Leben zu singen und hielten Neymars Trikot in den Händen. Da realisierte ich, dass doch nicht der Ausfall von Thiago Silva das größere Übel für diese Mannschaft bedeutete. Tatsächlich war es Neymars Verletzung, welche die Seele der Brasilianer vollkommen eingenommen hatte. Die Mannschaft kam mit "Forca Neymar"-Kappen aus der Kabine, sie hielt sein Trikot während der Hymne in den Armen und bedeutete sich und der Welt: Wir machen das für dich, Neymar! Und für das Land, für den brasilianischen Fußball, der immer schon wunderbar war und immer wunderbar sein wird! Für die vielen tausend gerührten Fans in Belo Horizonte und die Millionen daheim vor den Fernsehern. Das war zumindest naiv, ja eigentlich dummdreist.

So versuchte das Team von Brasilien den Fußballgott gnädig zu stimmen. Deutschland rechnete mit dieser Leidenschaft, und Joachim Löw warnte zuvor eindringlich vor der Jetzt-erst-recht-Mentalität der Brasilianer. Dass diese Einstellung aber derart in einen fußballerischen Wunderglauben stürzen konnte, hätte sich niemand gedacht. Und Deutschland tat, was Deutschland ausmacht: Sie reagierten abgeklärt auf diese wilden Brasilianer, blieben konzentriert und spielten nebenbei den bisher besten Fußball dieses Turniers.
Nach der ersten Angriffswelle Brasiliens, die noch vom Schwung der Hymne gelebt hat, verebbte der Zauber aber und man sah erstmals die Schwächen dieser Mannschaft: Komplette Desorganisation in der Abwehr (der fehlende Thiago Silva konnte nicht kompensiert werden) und der Angriff ausgelegt auf Zufallsaktionen ohne echte Ideen und technisch einfach nicht sauber genug gegen den übermächtigen Gegner Deutschland.

So stand es bald 1:0, nachdem Müller völlig unbedrängt einen Eckball verwertete. Dem brasilianischen Furiosum verlieh das natürlich einen Dämpfer, man wirkte geknickt, unkonzentriert, und versuchte umso mehr (jetzt erst recht!) ein Spiel zu erzwingen, das diese Mannschaft im kompletten Turnier nie gespielt hatte. Deutschland hingegen tat sich leicht, mit ausgezeichnetem Kombinationsspiel die brasilianischen Bemühungen vollständig zu entzaubern. So kam es zu den denkwürdigen 7 Minuten, nach denen es auf einmal 5:0 für die Gäste aus Deutschland stand. Brasilien war gebrochen, das Spiel war vorbei, der Zauber verflogen! Der großartige Andre Schürrle machte nach der Halbzeit noch seine beiden - in diesem Spiel - logischen Tore, Neuer vereitelte noch ein, zwei brasilianische Großchancen und zeigte fast schon Anzeichen von Reue. In Minute 78 sagt einer, dass dieser Käse nun gebissen sei, und lehnt sich mit der Aussage nicht gar so weit aus dem Fenster. Seine Frau habe angerufen und gefragt, ob das nun das Spiel sei, oder eine Zusammenfassung eines vorhergegangenen Spiels. Ja, es war ein denkwürdiges, unfassbares Ereignis! Der Ehrentreffer von Oscar in Minute 90 wurde noch ein bisschen gefeiert, ansonsten beklatschte das brasilianische Publikum schon seit geraumer Zeit die Deutschen.

Dass eine Mannschaft dieser Klasse so untergeht, ist nicht normal. (Algerien feierte gestern wohl den theoretischen Finaleinzug.) Man wurde Opfer des ungeheuren Drucks, den man sich vor allem selber auferlegte, und des von mir angesprochenen Wunderglaubens, von dem der brasilianische Fußball schon seit eh und je beseelt ist.
Eine Niederlage dieser Dimension ist nicht fassbar. Schon gar nicht für Brasilien bei der Heim-WM. Die Fußballwelt hat Mitleid mit dem Gastgeber, der so zerschossen und demoliert das Turnier beenden muss. Fans und Spieler weinen, und am Ende bleibt die Erinnerung an Neymar, und wie sein Ausfall tatsächlich turnierentscheidend war. Wir wünschen allen drei gute Besserung - dem Team, dem Land und Neymar.


Deutschland indessen kann auch nicht fassen, was da passiert ist. Bundestrainer Löw beschwört nun die Stärken der deutschen Mannschaft: Ruhe und Konzentration bewahren, jetzt demütig bleiben. Thomas Müller meint, dass das "nicht unbedingt zu erwarten" gewesen wäre. Auch Klose bemerkt: "Es ist jetzt natürlich schwer nach so einem Spiel." Es sind Töne wie diese, die zeigen, dass die deutsche Mannschaft spät aber doch zu sich selbst gefunden hat. Man hat Spiele mit Kampf und Krampf gewonnen, man hat aber auch Spiele mit Leichtigkeit und Witz gewonnen. Man hat Nahtod-Erfahrungen hinter sich gebracht und auch daraus gelernt, dass allzu leichte Siege folgende Spiele nicht automatisch einfacher machen (s. das erste Spiel gegen Portugal und das zweite gegen Ghana). Diese Mannschaft ist gewachsen in den letzten Tagen und sie sind jetzt der klare Favorit auf den Titel. Einen Titel, den sie seit 2006 mit gutem Recht für sich beanspruchen. In dieser deutschen Elf kulminiert alles, was den deutschen Fußball in früheren Tagen und auch in jüngerer Zeit ausgemacht hat. Holten sie ihn jetzt nicht, es wäre auch irgendwie ein Witz - aber ein guter!

Dienstag, 8. Juli 2014

Abgesang auf den Zwergerlgarten


Jetzt reden alle nur mehr von den Favoriten. Die Mannschaften, die Würze in die WM gebracht haben, sind nun alle weg. Zeit also, sie nochmal kurz hochleben zu lassen...



Nacheinander implodieren bei dieser WM die Storylines: Zuerst schien es das Turnier der Außenseiter zu werden, vor allem, nachdem sich Italien und Spanien nach der Vorrunde verabschiedet haben, und mit Kolumbien, Costa Rica, Algerien und den USA durchaus überraschende Achtelfinalkandidaten erwuchsen. Dann gab es noch Chile, Belgien und Frankreich, die nach einer guten Vorrunde bereit für mehr zu sein schienen.

Doch plötzlich entschied sich der große Fußballgott, alle Überraschungs-Hoffnungen im Keim zu ersticken, und so kamen alle Gruppenersten der Vorrunde ins Viertelfinale, wo sich dann letztlich die Favoriten am Papier allesamt durchsetzten. Wie das geschehen ist, interessiert spätestens jetzt keinen mehr, denn die Halbfinalpaarungen sind das, was man sich schon am Anfang erwartet hätte: Zwei südamerikanische und zwei europäische Mannschaften. Gut, Holland hätte vorher wohl keiner wirklich auf dem Papier gehabt, aber immerhin steht hier der Vizeweltmeister erneut im Halbfinale - so überraschend ist das dann auch wieder nicht.

Das zeigt, dass alles nichts zu helfen scheint: Gegen die "großen Nationen" ist kein Kraut gewachsen. Und bevor die üblichen Verdächtigen den Titel unter sich ausmachen, hier ein kleiner Abgesang auf die Zwergerl und Sitzriesen dieses Turniers:

Algerien:
Die Mannschaft, die am besten gezeigt hat, was man mit purem Willen und strenger Taktik leisten kann. Der Last-Minute-Aufstieg gegen die uninspirierten Russen war ein kleines Highlight in der Vorrunde. Denn nach einer anständigen Partie gegen Belgien wusste man, dass hier keine Gaudi-Truppe am Werk ist, sondern eine Mannschaft, die es versteht, das meiste aus ihrem Potenzial zu machen. Im Spiel gegen Deutschland hat sich die Fußballwelt dann wohl doch zu viel erwartet - und das beinahe zu Recht. Ich würde gerne sagen: Beim nächsten Mal klappt es dann. Aber nein, das sage ich jetzt nicht!

Belgien:
Der Geheimfavorit. Selten wurde dieses Wort so überstrapaziert wie im Bezug auf die belgische Mannschaft. Dabei hielten sie uns lange hin. Als es dann soweit war, und der Geheimfavorit endlich aufspielte, in einem Match gegen die USA, das vielleicht jenes mit der besten Verlängerung des Turniers war, war man entsetzt, wie viele Torchancen dieser Geheimfavorit liegen ließ. Und dann war es auch schon vorbei, und man scheiterte an abgebrühten Argentiniern. Schade, allzu viel hat man nicht gesehen von den Belgiern. Wir dürfen uns aber sicher auf die nächste Europameisterschaft mit den Roten Teufeln freuen!

Kolumbien:
Für mich die Mannschaft des Turniers. Ihr zuzusehen hat einfach immer Spaß gemacht. Entweder waren es die Bilder der wunderbaren Fans, oder das inspirierte Spiel von Akteuren wie Cuadrado oder James Rodriguez - Kolumbien bot Action und Spielwitz. Dass der große Star Falcao gar nicht so arg gefehlt hat, wie zunächst befürchtet wurde, spricht für die Mannschaft, die sich nicht auf einen Wunderknaben verlässt, sondern konzentriert, diszipliniert - aber vor allem inspiriert (immer wieder dieses Wort!) ihr Spiel macht und sich von großen Namen überhaupt nicht einschüchtern lässt (siehe das Match gegen Brasilien). Gerne wieder, gerne mehr!

Ghana:
Sie mögen zwar von der Papierform her nicht die beste afrikanische Mannschaft sein, und in diesem Turnier haben sie auch nicht am besten von allen Teams aus Afrika abgeschnitten, aber Ghana hat sich zu einem Team gemausert, mit dem immer zu rechnen ist. Anders als die Teams von Kamerun oder der Elfenbeinküste zeigen die Ghanaer weniger Anfälligkeiten für Hahnenkämpfe und vergessen am Feld nicht, worum es eigentlich geht: nämlich um Fußball. Ich befürchte, dass dieses Ghana nur ein kleiner Stern auf Zeit ist. Aber die Mannschaften von 2010 und 2014 werden wir nicht vergessen, weil sie uns unglaubliche Matches geliefert haben!

Costa Rica:
Unglaublich war auch die Mannschaft aus Costa Rica. Noch einmal: Zuerst setzen sich die Ticos in einer Gruppe mit Italien, Uruguay und England als Gruppenerster durch und erreichen danach das Viertelfinale. Zwei Mal zwingt die defensiv unglaublich gut agierende Elf ihre Gegner ins Elfmeterschießen. Einmal die europäischen Defensivmeister aus Griechenland und einmal die Holländer. Somit beendet Costa Rica diese Weltmeisterschaft ungeschlagen und fährt erhobenen Hauptes nach Hause. Jorge Luis Pinto ist jetzt schon der Coach des Turniers, und die Ticos können sich nach diesem Erfolg nun wieder dem "pura vida" widmen. Das war großartig, das war die große Überraschung!

USA:
Ich habe diese Mannschaft schon genug über den grünen Klee gelobt. Vielleicht auch oft zu Unrecht. Trotzdem: Die Amerikaner sind mir ans Herz gewachsen. Sie sind keine großartigen Fußballer, aber sie zeigen immer Leidenschaft, geben nie auf und halten nichts von Hinten-rein-Stellen. Sie sind eines der wenigen Teams, das sich traut, einfach das zu spielen, was es glaubt zu können. Das hatten sie auch schon vor vier Jahren getan, und jetzt taten sie es wieder - mit wachsender Begeisterung. Letzteres ist auch Jürgen Klinsmanns Verdienst, der vielleicht als der Mann, der Soccer salonfähig gemacht hat, in die amerikanische Sportgeschichte eingehen wird. Ich behaupte, wir sind gerade Zeuge der Geburt des amerikanischen Fußballwunders. Nicht, dass sie schon in vier Jahren zu den Favoriten gehören werden; aber wenn die Amerikaner einmal etwas für sich entdeckt haben, dann wollen sie auch die Besten darin werden...

Wem von diesen "Zwergerln" wir auch beim nächsten Mal wieder zujubeln werden können, ist ungewiss. Vielleicht schafft es die eine oder andere Nation sich zu etablieren, vielleicht ist die eine oder andere das nächste Mal schon gar nicht mehr dabei. Dann wird es aber andere geben. Denn ohne diese Mannschaften ist eine WM so schal und leer wie Computerschach. Dass dieses Turnier so aufregend war, lag nicht zuletzt an diesen Teams aus der zweiten und dritten Reihe: Eigentliche Zwerge, die für ein Turnier ins Riesenhafte wachsen können.

PS: Freilich, das waren jetzt nicht die ganz kleinen Zwergerl wie Iran, Honduras oder Südkorea. Aber bevor wir uns über die unterhalten, wünsche ich mir von ihnen, dass sie beim nächsten Mal auch was Erzählenswertes abliefern, anstatt nur brav ihrer Außenseiterrolle zu entsprechen.


Montag, 7. Juli 2014

Louis van Gaal - Wechselgott

Das Geheimnis eines guten Trainer ist es, Dinge zu tun, die keiner nachvollziehen kann, und just mit diesen Dingen erfolgreich zu sein. Louis van Gaal ist so ein Trainer. 

 

NED - CRC 0:0 (4:3 n.E.)


Ich war schon wieder dabei, Louis van Gaal zu verfluchen. Schon wieder keine erkennbaren Offensivbemühungen über weite Strecken des Spiels. Kontrolle, Kontrolle und nochmals Kontrolle. Gegen den Underdog Costa Rica bewahrte man zwar die meiste Zeit über die Überhand, aber aufregend war es nicht. Die seltsame Strategie der Holländer scheint psychologisch geleitet: "Wenn wir gegen einen absoluten Außenseiter ein 0:0 halten, verhindern wir allzu geschäftige Aktivität seinerseits, weil der ja das Unentschieden als Erfolg verbuchen kann. Dann genügt uns ein spätes Tor und wir müssen uns nur noch kurze Zeit gegen verzweifelte Sturmläufe wehren, dann haben wir es geschafft." Und enstprechend plätscherte dann das Spiel dahin.

Kontrolle ist ja schön und gut, und in Hollands Fall auch wirksam: Schließlich gelang den Ticos der erste und einzige Torschuss erst in der Verlängerung. Wenn man dann aber weder zum Ende der Spielzeit noch in der Verlängerung ein Tor schießt, liefert man sich als Favorit der Gefahr aus, im Elfmeterschießen gegen einen Zwerg auszuscheiden. Natürlich hatte Costa Rica Glück, denn die Niederländer trafen drei Mal nur die Stange. Es schien auch irgendwie gerecht, dass es diesmal mit dem späten Tor nicht klappen wollte. Dabei darf man nicht vergessen, dass Costa Rica seinen Möglichkeiten entsprechend agierte und mit aller Kraft verteidigte. Und das machte die Mannschaft von Trainer Jorge Luis Pinto auch hervorragend.

Holland ließ das nervös werden, denn man wusste um die Klasse des gegnerischen Torwarts und um die bescheidene Klasse des eigenen. Van Gaal liebt keine Überraschungen, und daher brachte er Sekunden vor Ende der Verlängerung den Ersatztorman Tim Krul. Diese Einwechslung betitelte Oli Kahn nach dem Match als "größten Schwachsinn", den er je gesehen habe. Und tatsächlich war dieses einzigartige Kuriosum irgendwie schwachsinnig. Es ist eine dieser Aktionen, die sich nur im Nachhinein rechtfertigen lassen, und dann auch nur, wenn alles gut geht. Einen unaufgewärmten Tormann von der Bank in ein so wichtiges Elfmeterschießen zu schicken und dafür eine der drei Wechselmöglichkeiten zu verbrauchen, ist zumindest abenteuerlich. Tim Krul ist kein Elfmeterkiller - keine Statistik belegt das. Jasper Cillessen zwar auch nicht, der hätte sich aber zumindest die Chance verdient, zum Matchwinner zu werden. Er wusste natürlich vorher nichts davon. Tim Krul hingegen schon.

Tim Krul also geht zum Elfmeterschießen aufs Feld und raunzt vor jedem Schuss der Costa Ricaner den Schützen an. "Ich weiß, wohin du schießt!", schreit er ihnen entgegen und zeigt dabei auf seine Brust. Das sind Mätzchen der alten Schule. Eigentlich dachte ich, sowas macht keiner mehr. Warum es Tim Krul gemacht hat, ist fraglich. Einerseits natürlich zur Einschüchterung, und der Gedanke dahinter ist nachvollziehbar, denn die Costa Ricaner sind alles, nur keine abgebrühten Vollprofis, die jede Woche ein so bedeutendes Spiel entscheiden müssen. Andererseits diente Kruls Gelaber vielleicht auch ihm selbst. Als Ersatztormann kommst du nicht einfach rein und hältst in einem WM-Viertelfinale zwei Elfmeter. Da musst du die wenige Zeit dazu nutzen, ein bisschen psychologisches Momentum zu bekommen. Krul hat das eben so gelöst.
Und tatsächlich hielt er zwei Elfmeter. So avancierte der kurz Eingesetzte zusammen mit seinem Trainer, dem Wechselgott van Gaal, zum Helden des Abends. Louis van Gaals Wechsel haben bis jetzt immer spielentscheidende Wirkung gehabt: Gegen Mexiko macht Huntelaar den Elfer. Gegen Chile treffen Fer und Depay - beide kamen von der Ersatzbank. Gegen Australien macht Depay den Siegtreffer - nach Einwechslung. Nur im ersten Spiel gegen Spanien war kein Wechsel nötig, um das Spiel zu entscheiden.

Man kann behaupten, dass das Zufall ist. Ich glaube es aber nicht, denn das niederländische Spiel zielt derzeit genau darauf ab, den Gegner einzulullen, um dann in der Schlussphase taktisch umzustellen und aggressive Angriffe zu fahren. Dass dann die jeweils neuen Spieler die Treffer machen, auf deren Rolle sich die verteidigende Mannschaft nur ungenügend einstellen konnte, ist kein Zufall. Und wenn das nicht klappt, dann wartet man eben bis zur 120. Minute und schickt dann einen neuen Keeper rein, der den Rest erledigt. Eine großartige Geschichte war das allemal.
Zudem sollte man nicht vergessen, wie gut die Elfmeter der Holländer geschossen waren, denn der eigentliche nominelle Elfmeterkiller stand bei Costa Rica im Tor!

Holland steht im Halbfinale und trifft dort auf einen alten Bekannten: Argentinien, gegen das es 1978 ein WM-Finale verlor, das sie eigentlich gewinnen hätten sollen. Argentinien hingegen hat den eigentlichen Weltmeister Belgien geschlagen und somit dafür gesorgt, dass die Halbfinalpaarungen sich lesen wie ein Who-is-who der größten Fußballnationen der letzten 50 Jahre. Dass hinter den großen Namen viel heiße Luft steckt, ist uns im Laufe des Turniers klar geworden. Nach dem ersten Spiel hätte ich Argentinien kein Halbfinale zugetraut - vor dem Turnier allerdings schon. Nach dem zweiten Spiel waren meine Zweifel noch größer und sie sind nie kleiner geworden. Jetzt stehen sie trotzdem dort, wo die Erwartungen vor dem Turnier sie eigentlich hingesetzt hätten: Im Halbfinale.

Wie das mit Deutschland und Brasilien ist, habe ich ja schon gesagt: Prinzipiell wäre ein Turniersieg beider Mannschaften irgendwie in Ordnung, wenn auch keine wirklich überzeugt hat. Brasilien hat natürlich nach dem Ausfall von Neymar (und der Sperre von Thiago Silva, die fast noch schlimmer ist) den Auftrag, den Finaleinzug trotzdem zu schaffen. Das gehört zu jeder guten Geschichte dazu. Dass Deutschland da jetzt als Bösewicht auftritt, passt nicht nur den Brasilianern gut ins Konzept. Die Deutschen betonen ein wenig zu viel, dass der Ausfall von Neymar tragisch ist, denn man hätte gerne gegen die allerbesten Brasilianer gespielt (jaja!). Währenddessen sucht Deutschland noch immer seinen WM-Helden, denn momentan sieht man noch auffällig viele mit Merkel-Masken im Publikum sitzen...

Auch, dass jetzt lauter Nicht-Überzeuger im Halbfinale stehen, macht die ganze Sache erst richtig gut: Denn jede mögliche Finalpaarung wäre für sich genommen ein Kracher, so wie die Halbfinalspiele auch schon Kracher sind. Spielerisch erwarten wir uns jetzt eh nichts mehr, weil Belgien, Frankreich und Kolumbien ja weg sind. Aber ich bin mir sicher, dass uns noch einige seltsame und bemerkenswerte Vorkommnisse bevorstehen!

Held des Tages:
Tim Krul, der Elfmeterkiller, der nie einer war, und jetzt doch einer ist. Eine denkwürdige Einwechslung!

Tragischer Held des Tages:
Sneijder, der es immer noch kann, und trotzdem zwei Mal nur das Aluminium traf.

Ein Echo

Ein schmerzhafter Ausfall und ein einfaches Freistoßtor und schon haben wir das erste Klassiker-Halbfinale dastehen. Von Tiki-Taka ist nun weit und breit nichts mehr zu sehen.

 

GER - FRA 1:0




Es macht sich bemerkbar: Spielerisch überlegene Mannschaften kommen auch diesmal nicht zum Zug. So hat die deutsche Mannschaft die Franzosen gestern vor allem durch körperliche Überlegenheit in der Abwehr in Schach halten können. Deutsche Chancen fanden sich vor allem nach Kontern (Schlussphase) bzw. eben bei Standardsituationen. Nach so einer fiel auch das einzige Tor. Der gestern wieder enorm spielende Mats Hummels traf schön per Kopf zum 1:0 - und dabei blieb es auch.


Die Franzosen waren bei dieser WM die spielerisch überzeugendste Mannschaft. Das zeigte sich vor allem in den ersten beiden Gruppenspielen beeindruckend. Das dritte betritt man mit kompletter B-Ganitur, und im Achtelfinale tat man sich gegen inspirierte Nigerianer sichtlich schwer. Dass Frankreich gegen Deutschland sein schnelles Kombinationsspiel aufziehen konnte, überraschte doch ein wenig. Letztlich aber waren es die vielen in die vorderen Reihen gespielten hohen Bälle, die immer wieder zu Ballverlusten führten, weil man zweikampftechnisch eben fast immer das Nachsehen hatte. Mehr Kombinationsspiel - schnelle Passstaffetten und Laufarbeit - wäre vielleicht zielführender gewesen. Bei solchen Aktionen spielte man das deutsche Mittelfeld immer wieder schwindlig.



Gratulation an die deutsche Mannschaft, die nach der zweifelhaften Partie gegen Algerien wieder zu alter Stärke zurückfand. Alt deswegen, weil das allseits gelobte deutsche Angriffsspiel gestern wieder dem traditionelleren Ansatz von Mauern und Kontern weichen musste. Vielleicht liegt es daran, dass die großen Akteure des Klinsmann'schen bzw. Löw'schen Tikitakas deutscher Prägung bei diesem Turnier bisher hinter den Erwartungen geblieben sind. Das betrifft etwa Mesüt Özil, aber auch Sami Khedira, die beide noch vor vier Jahren als das beste Kreativmittelfeld neben den Spaniern galten.

Vielleicht liegt es aber auch an dem deutlichen Scheitern des spanischen Systems, dass man sich jetzt selbst auch nicht mehr zutraut, etwas Ähnliches zu spielen. Man hat mitverfolgt wie TikiTaka zu Grabe getragen wurde; just von einer Mannschaft, die ihren spielerischen Ansatz vor vier Jahren in einem denkwürdigen WM-Finale selbst beerdigt hat. Holland nämlich spielt nur noch kreativen Offensivfußball, wenn es wirklich wirklich muss. Ansonsten herrscht auch hier der Defensivgedanke. Das ist - wie im Falle Deutschland - zwar nicht schändlich, aber schade.



BRA - COL 2:0



Auch Brasilien hat erkannt, dass das juego bonito immer dann dem Ergebnisfußball weichen muss, wenn es in die heiße Phase geht. So sah man gestern gegen Kolumbien, das seinerseits auf das ruppige brasilianische Spiel zu reagieren versuchte, eine hart geführte aber doch gute Partie mit vielen Fouls, die teilweise nicht entsprechend (nämlich früh genug) sanktioniert wurden. Der harte Ansatz zeigt eine Kultur der Spielzerstörung (oder zumindest Spielverhinderung), die auf mangelndem Selbstbewusstsein beruht. Dass ein solcher Ansatz, den Holland im Finale von 2010 schon verfolgt hatte, letztlich nicht belohnt wurde, ist irgendwie gerecht. Auch wenn ich es damals natürlich gerne anders gesehen hätte. Brasilien und Holland könnten auch anders - deswegen ist das schade.


Das Endergebnis stimmt natürlich trotzdem, sowohl auf dem Papier als auch nach dem Spielverlauf. Die zunehmend verkrampft agierende Heimmannschaft steht zu Recht im Halbfinale und trifft dort auf Deutschland. Bezeichnend, dass in beiden Partien, die Tore allesamt von Innenverteidigern erzielt wurden - und aus Standardsituationen. Wir können uns auf ein zerfahrenes Match einstellen, an dessen Ende vielleicht sogar ein Elfmeterschießen steht. Das heißt, solange nicht Julio Cesar in der regulären Spielzeit ein Schnitzer passiert. Das gab es ja auch schonmal…





Dass so oft die Mannschaft mit dem geringeren Unterhaltungswert gewinnt, macht den Fußball suspekt. Vielleicht ist es dieser Umstand, der das amerikanische Unbehagen dem Soccer gegenüber erklären könnte. Fußball ist nicht gerecht, das habe ich an anderer Stelle schon mal geschrieben. Gerechtigkeit ist keine Kategorie, weil das mit dem Fußballgott, auch wenn er sich anscheinend logisch herleiten lässt, nicht funktioniert. Weil eben nicht immer die bessere Mannschaft gewinnt, oder zumindest die Mannschaft, der wir den Sieg aus verschiedenen Gründen eher gönnen würden, ist Fußball oft höchst unbefriedigend.

Wenn Deutschland, Brasilien oder Holland Weltmeister werden sollten, dann muss man andere Kategorien zur Rechtfertigung bemühen. Deutschland, weil es sich nach all den Jahren wirklich neuartigen deutschen Fußballs einen großen Titel verdient hätte. Dass dieser just bei jenem Turnier folgen würde, bei dem man beginnt, die großen Innovationen wieder ad acta zu legen, wäre natürlich traurig. Aber im Prinzip würde sich Deutschland belohnen für den Mut, eine neue Art Fußball spielen zu wollen.

Brasilien ginge als Eh-immer-Favorit und vor allem als Gastgeber des Turniers auch in Ordnung. Man wird sich in wenigen Jahren eh nur an Neymar erinnern können. Hoffentlich nicht mit der Storyline, dass der große Star im Viertelfinale niedergestreckt wurde und nie mehr zum Einsatz kam.

Holland verdient den Titel seit den 1970ern, und auch wenn von voetbal totaal nicht mehr viel übrig ist, gehört die Niederlande auf die Liste der WM-Titelträger. Genauso wie England. Einfach, weil es irgendwie passt. So nah wie vor vier Jahren sind sie dem Titel zuvor noch nie gekommen (außer 1978). Robben hatte ihn schließlich auf dem Fuß. Wenn es heuer klappen sollte, dann akzeptiert man das, weil Holland wieder am Ende einer großen Generation steht. Es sind noch einige Akteure der großen Niederländischen Mannschaften von 2008 und 2010 dabei: Robben, Sneijder, Van Persie, Kuijt. Diese Fußballer hätten sich einen Titel verdient. Was dieses Turnier anbelangt, geht es darum, dass die Holländer in ihrem Auftaktspiel die Zeitenwende herbeigeführt zu haben scheinen: Tiki-Taka ist ein Wort, das zu einem Echo taugt. Es hallt nach - über alle Kontinente hinweg auf vereins- wie auch auf internationaler Ebene. Aber in Wahrheit haben es immer nur die Spanier gespielt; nur sie haben die Fähigkeit dazu gehabt, nur sie das Personal. Sollte Holland Weltmeister werden, dann haben sie den Titel aus jetziger Sicht allein für die Komplett-Demontage der spanischen Elf verdient. Und für den Symbolcharakter, den dieses Spiel hatte.


Es bleiben noch Argentinien und Belgien. Und für die beiden gilt, was ich oben geschrieben habe genauso: Belgien sollte sich eigentlich durchsetzen - sie haben, ähnlich wie die Franzosen, einen Spielansatz, der auf Kreativität und technisch wie auch taktischem Geschickt beruht. Wie gut so ein belgisches Spiel aussehen kann, das sahen wir gegen die USA. Es bleibt nur zu hoffen, dass ein ähnliches Spiel gegen einen Verhinderungsansatz, wie er bisweilen sogar von Argentinien gespielt wird, erfolgreich sein könnte. Für die Belgier spricht, dass die Mannschaft gefestigter wirkt als jene der Franzosen, und dass sie es auch körperlich mit Dreschern aufnehmen können. Gegen sie spricht die relative Unerfahrenheit, wenn es um die Endphase internationaler Turniere geht bzw. einfach der Umstand, dass sie Belgien sind und nicht Deutschland, Holland, Brasilien oder Argentinien.

Einen großen Namen zu tragen wird vom psychologischen her mit Fortdauer des Turnieres immer wichtiger. Auch, ob man schon einmal Weltmeister war. Deswegen würde auch Holland in einem Finale gegen Deutschland oder Brasilien in dieser Hinsicht einen gewissen Nachteil haben - und Belgien sowieso.


Der Weltmeister kann eigentlich nur Belgien heißen. Aber weil Fußball eben nicht gerecht ist und sich schon gar nicht ausrechnen lässt, wird er höchstwahrscheinlich nicht Belgien heißen. Dennoch lassen sich, wie oben angedeutet, für jede Mannschaft (außer Argentinien und Costa Rica) recht gute Gründe dafür finden, dass ein Titel doch in Ordnung ginge. Wir werden diese Gründe brauchen; Rationalisierung nennt man das in der Küchenpsychologie. Sie macht schmerzvolle Erfahrungen erträglicher, weil wir uns diese erklärlich machen können.



Held des Tages:

Gab es heute nicht wirklich einen. Vielleicht einmal mehr Neuer, der in der 94. Mit einem tollen Reflex den deutschen Sieg rettete.

Mittwoch, 2. Juli 2014

Soccer is so aberwitzig

Nach einer schläfrigen Partie von Argentinien fanden die Achtelfinalpartien mit der Verlängerung Belgien gg. USA einen mehr als würdigen Abschluss!


Ein Bild, das wir nicht mehr vergessen werden: Das Soldier Field in Chicago überströmt von fußballbegeisterten Amerikanern. Ja, richtig: fußballbegeistert. Nicht Football, sondern Soccer ist gemeint. Mit dieser WM ist der Sport im Mainstream angekommen, oder hat zumindest wieder einen ordentlichen Beachtungsschub erfahren. Und das lag vor allem an Jürgen Klinsmann, der das Team USA Tempofußball spielen ließ, wie man ihn bei diesem Turnier von keinem anderen Team gesehen hat. Dass es am Ende gegen eine technisch und taktisch überlegen europäische Mannschaft nicht gereicht hat, war vorherzusehen. Und trotzdem war auch dieses Ausscheiden der US-Amerikaner großes Drama. Denn sie haben den Belgiern nichts geschenkt, vor allem nicht Tim Howard, der nächste großartige Keeper dieses Turniers.

27 zu 9 Torschüsse zählte die Statistik für Belgien, und nach 90 Minuten konnten es wohl weder die Belgier noch die Amerikaner glauben, dass es immer noch 0:0 stand. Wieder hatte es Klinsmanns Team geschafft, gegen einen spielerisch übermächtigen Gegner den Schaden begrenzt zu halten. Selber konnte man nur selten gefährlich werden - aber wenn, dann brandgefährlich!
Die Belgier haben endlich gezeigt, wozu sie in der Lage sind. Dass es an der Chancenverwertung noch hapert, darüber darf man getrost hinweg sehen, denn sie haben das Spiel über 90 Minuten gemacht und die Amerikaner eigentlich nie wirklich mitspielen lassen. In der Verlängerung setzte es dann auch folgerichtig zwei Tore für die Roten Teufel; Team USA schien geschlagen. Doch Klinsmanns Mannen zeigten erneut, dass man den American Spirit nie unterschätzen darf und warfen alles nach vorne, was sie noch hatten. Tatsächlich reichte das, um die Belgier zu verunsichern und bald stand es 2:1. Clint Dempsey vergab sogar noch eine 100%ige, welche die Tausenden auf dem Soldier Field in Chicago und anderswo in den USA die Gesichter in ihre Hände vergraben ließen.
Soccer can be so aberwitzig! Wenn es dieses deutsche Wort noch nicht in den amerikanischen Sprachgebrauch geschafft hat, würde es mich nicht wundern, wenn es nach dem Belgien-Spiel geschähe. Es würde wohl reichen, spräche Klinsmann das Wort einmal aus. Die Verlängerung von Belgien gg. USA waren vielleicht die spannendsten 30 Minuten dieses Turniers bisher. Am Ende siegte der Favorit, der allmählich seinem Geheimfavoritenstatus gerecht zu werden scheint.

Man trifft jetzt auf Argentinien, das sich gegen eine destruktive Schweizer Nati mal wieder allzu schwer getan hat. Im Spiel gegen Belgien muss bei den Argentiniern etwas passieren. Wenn Belgien aber seine Chancen besser nutzt als gegen die USA, sehe ich die Albi-Celeste nicht im Halbfinale. Sorry, Messi.

Noch ein Wort zu Team Belgien: Es ist schon bezeichnend, auf welch hohem Niveau der belgische Fußball derzeit operiert, und wie die Einzelakteure zum richtigen Zeitpunkt zu glänzen beginnen. Das ist das Kennzeichen einer Turniermannschaft: Dass der wegen seiner bisher schwachen Leistung zuerst auf der Bank sitzende Lukaku eingewechselt wird und kurz danach das erste Tor vorbereitet und das zweite selber macht. Dass der Jungspund Kevin De Bruyne sich dieses Spiel ausgesucht hat, um vorzuführen, was er wirklich drauf hat. Dass der extrem junge Origi als Stürmer eine super Partie gespielt hat; dass Verthongen den bisher besten Außenverteidiger des Turniers gezeigt hat. Da läuft viel Gutes zusammen, und der Zenit wird wohl noch nicht überschritten sein...


 Held des Tages:
 Romelu Lukaku, ein Joker, wie er im Buche steht. Er brachte die Wende in Belgiens Spiel und hat sich wohl rehabilitiert.


 Tragischer Held des Tages:
 Erneut der Torwart der unterlegenen Mannschaft. Tim Howard, der Glatzkopf mit dem beeindruckenden Bart ist vielleicht hauptverantwortlich dafür, dass Belgien nicht schon zur Full Time als Sieger vom Platz gehen konnte. Respect the Keeper!


Dienstag, 1. Juli 2014

Alte Tugenden

Die Deutschen blieben nicht nur unter den Erwartungen, sie unterboten diese sogar noch. Trotzdem stehen sie irgendwie im Viertelfinale und gehören da auch irgendwie hin.

 

GER - ALG 2:1 (n.V.)


Zumindest ein Deutscher hat gestern Großes geleistet: Und das war Manuel Neuer, der beste Mann auf dem Platz. Der Tormann, der das gesamte hintere Drittel verteidigen muss, weil seine Vorderleute dazu schlichtweg nicht fähig sind. Einzige Ausnahme war Jerome Boateng, der seinen Job anständig gemacht hat. Wie zerfahren die deutschen Hintermänner auch nervlich sind, zeigte Mertesackers Ausraster gegenüber dem ZDF ("Glauben Sie, unter den letzten 16 ist eine Karnevalstruppe? Was wollen Sie? Wollen Sie eine erfolgreiche WM, oder wollen Sie ausscheiden?"). Auch bei Trainer Jogi Löw hörte man Ungewöhnliches: "Soll ich mich ärgern, dass wir die nächste Runde erreicht haben? Man kann nicht in allen Matches fantastisch spielen. Was erwarten Sie eigentlich?"

Ja, wozu eigentlich die Aufregung? Deutschland hat doch wie erwartet die nächste Runde erreicht und den krassen Außenseiter Algerien geschlagen? Dass es 120 Minuten gedauert hat, daran hat einerseits die algerische Mannschaft Schuld, die sich überhaupt nichts geschissen und den Deutschen richtig Angst gemacht hat. Andererseits waren es natürlich die haarsträubenden Ausflüge Neuers ("Was macht der da?!"), die ein paar algerische Großchancen im Keim erstickt haben. Neuer hat gezeigt, was ein moderner Torwart alles können muss - wenn seine Vorderleute übers Feld rumpeln wie in den Zeiten vor der großen Klinsmann'schen Tugendwende. Neuer hat Libero gespielt - so wie früher Beckenbauer.
Deutschland will seit Jahren wie Spanien spielen - viel Ballbesitz, kurze, flache Pässe und kaum Fouls. Gestern haben sie aber gewonnen wie zu Zeiten von Brehme und Völler. Daher die Rechtfertigungsgesten (Schürrle: "Egal wie, Hauptsache wir sind im Viertelfinale."). Das war nicht das große deutsche Spiel, an dem seit Jahren gefeilt wird! Das war das alte teutonische Durchgenudel. Schade eigentlich.

Und es waren nicht einmal die schwachen Einzelspieler (Götze, Özil, Mustafi), es war die ganze Mannschaft, die verunsichert wirkte. Einziger Lichtpunkt war Schürrle, der folgerichtig dann auch das Tor in der Verlängerung geschossen hat. Frag nicht wie! (Schürrle würde ja sagen: "Egal wie, Hauptsache wir sind im Viertelfinale"). Schürrle und Neuer, das bleibt vom deutschen Team, wenn man das lächerliche Match gegen Portugal abzieht, in dem Müller seine Tore gemacht hat. Götze, der nach seinem Zufallstreffer gegen Ghana gejubelt hat, als hätte er das Toreschießen erfunden, spielt den beleidigten Bub, der für solche Aufgaben noch nicht die nötige Reife mitbringt.
Man muss sich deswegen noch keine Sorgen um die deutsche Mannschaft machen. Wohl aber um den deutschen Fußball, der in den letzten Jahren eine so schöne Entwicklung genommen hat. Sollte sich während dieser WM herausstellen, dass mit dem Kämpferischen mehr zu machen ist als mit dem Spielerischen, ist zu befürchten, dass die Deutschen wieder zu den "hässlichen Gewinnern" werden, die sie einmal waren. (Holland ist übrigens auch auf dem besten Weg dazu!)

Schön waren trotzdem die Reaktionen der algerischen Fans nach dem Spiel, die gefeiert haben als hätten sie das Spiel gewonnen. Für Algerien war es ein Riesenerfolg ins Achtelfinale zu kommen. Und es war ein Riesenerfolg, das DFB-Team so fordern zu können. Aber trotz allem hieß der Gegner Deutschland. Und Deutschland scheidet nicht im Achtelfinale aus. Schon gar nicht gegen Algerien. Die Welt ist einfach so eingerichtet..

Wir wurden auch gestern wieder daran erinnert, dass ein Fußballfeld auch ein Schlachtfeld sein kann. In Erinnerung geblieben ist mir der Sprint übers halbe Spielfeld von Islam Slimani in der 118. Minute auf dem Weg zum Ausgleich. Kurz vorm Strafraum verliert er den Ball (wahrscheinlich an Neuer, es könnte aber auch Boateng gewesen sein) und fällt vornüber ins grüne Gras von Porto Allegre. Er liegt da wie erschossen, völlig entkräftet, wohl wissend, dass es wahrscheinlich seine letzte Aktion bei dieser WM war. Im Gegenzug nutzt Deutschland die Chance zum zweiten Treffer. Algerien ist geschlagen.

Algeriens Tor fällt in der Nachspielzeit der Verlängerung - ein ungünstiger Zeitpunkt für einen Anschlusstreffer. Aber es fällt just in dem Moment, als die deutschen Fans ihre schauerlichen "SIEG! SIEG!"-Rufe ertönen lassen. Insofern war das Tor nicht nur gerechtfertigte Ergebnis-Korrektur, sondern auch ein angenehmer Dämpfer für das teutonische Erwin-Rommel-Gedächtnisgebrüll. Die wahren Wüstenfüchse sind nämlich immer noch die Algerier!


Held des Tages:
Manuel Neuer, der beste Verteidiger des Turniers. Auch die beachtliche Leistung seines Gegenübers M'Bolhi und jene von Enyeama aus dem Nigeria-Spiel beweist einmal mehr die hohe Klasse der Torhüter in diesem Turnier.

Neuers Ballkontakte außerhalb des Strafraumes im Match gegen Algerien. Es waren 17!


Tragischer Held des Tages:
Vincent Enyeama, der sich mit Händen und Füßen gegen Frankreich wehrte und doch nicht belohnt wurde. Trotzdem bleibt er der beste Tormann Afrikas.

Trottel des Tages:
Boris Kastner-Jirka und sein Witz nach der Halbzeitpause: "Der deutsche Teamarzt hatte in der Pause alle Hände voll zu tun. Viele Spieler litten an einer ... 'algerischen Reaktion'!"
Er wäre ja nicht gar so schlimm, wüsste man nicht genau, dass Kastner-Jirka den während der Pause irgendwo aus dem Internet geklaubt hat und ihn uns stolz als seinen eigenen präsentierte.