Donnerstag, 9. Juni 2016

Über Euphorie

Heute hat mich ein guter Freund angerufen, um mir mitzuteilen, dass morgen die EM los geht. Dann hat er mir noch mitgeteilt, dass er Vater werde. Jetzt kann man sagen, er habe ein gutes Gefühl für Dramaturgie, falle nicht gleich mit der Tür ins Haus, spare sich das Wichtigere für den Schluss auf. Und es stimmt, schließlich unterhält man sich nicht über zukünftige Vaterfreuden, um danach über Fußball zu reden - obwohl wir dann schon wieder über Fußball geredet haben. Vielleicht haben wir insgesamt wirklich mehr über die ins Haus stehende EM geredet als über die kommende Vaterschaft. Aber das liegt in der Natur der Sache, schließlich ist die EM in einem Monat schon fast wieder vorbei, wohingegen die Vaterschaft im Normalfall ein Leben lang dauert.

Nach dem Telefonat spürte ich Euphorie. Man glaube mir, dass es nichts mit der morgen beginnenden EM zu tun hatte, sondern wirklich nur mit meinem Freund und allem, was ihm bevorsteht. Trotzdem brachte mich die Euphorie wiederum auf den Fußball und erinnerte mich an die Großereignisse, deretwegen ich mich alle zwei Jahre wie ein Kind fühlen darf. Weil man sich durch etwas, womit man eigentlich nichts unmittelbar zu tun hat, wahnsinnig gut oder ziemlich schlecht fühlen kann. Also ist die Fußball-EM eh so etwas wie die anstehende Vaterschaft eines guten Freundes. "Vaterschaft" - das klingt so schwer und verbindlich. "Europameisterschaft" klingt hingegen verheißungsvoll! Das eine ist eine Lebensaufgabe, ja sogar ein Lebenssinn. Das andere sind vier Wochen im Frühsommer, während derer jeden Tag Bier getrunken und diskutiert wird, man sich streitet, wundert, ärgert. Und das, obwohl es eigentlich mit einem selbst gar nichts zu tun hat.

Kollektive Euphorie so kurz vor den Sommerferien - sind wir froh, dass unser Wirtschaftssystem sich das leisten kann! Sind wir froh, dass wir mit so unwichtigen Dingen wie Fußball so viel Zeit verschwenden können. Ein Fußball-Großereignis ist für uns eine Versicherung, dass es uns gut geht. Wenn die größten Probleme die Auflösung des Flachbild-TVs oder der zur Neige gehende Biervorrat sind, dann geht es uns gut!

Und uns geht es diesmal wirklich gut - weil wir dabei sein dürfen! Dieses undeutliche WIR - der Zwergenstaat Österreich im Gebilde einer Europäischen Union, die im Kontext einer EM keinen Menschen interessiert. (Obwohl es natürlich schon interessant ist, wenn die Briten mit gleich drei Mannschaften antreten und gleichzeitig bald darüber entscheiden werden, ob sie überhaupt zu Europa dazugehören wollen.)

Lassen wir die Euphorie beginnen und hoffen wir, dass sie bis zum letzten Tag anhält - egal, wer dann im Endspiel steht! Meinem guten Freund wünsche ich dasselbe für die kommenden Monate, nur mit dem Unterschied, dass er sich ruhig auch darüber hinaus noch täglich freuen darf. Schließlich sind nicht nur Europameistertitel für die Ewigkeit...



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