Sonntag, 19. Juni 2016

Das Sakrileg und Almers Aura

Es war wieder einmal ein denkwürdiges Match in Österreichs überschaubarer EM-Geschichte. Das hart erkämpfte und dennoch sehr glückliche 0:0 von Paris lässt die Nation hoffend zurück, und selbige befindet sich schon wieder auf einer Achterbahn der Gefühle: Vor einer Woche waren wir noch Europameister der Herzen - da hatten wir noch nicht einmal ein Spiel gespielt. Vorgestern waren wir die größte Enttäuschung aller EM-Teams überhaupt - nämlich dieser und aller vorhergegangenen Europameisterschaften. Heute sieht das schon wieder anders aus, denn: "so schlagen wir auch Island!" Island, die wir noch vor einer Woche ohnehin geschlagen hätten, die sich aber plötzlich als der große Gruppen-Leader herausgestellt haben... Herrje, Fußball kann so kompliziert sein!

Cristiano Ronaldo hat gestern geweint, geflucht, gebetet - es half alles nichts. Entweder legte sich Martin Hinteregger wie der reinste Baumstamm in jeden Schussversuch, oder aber Europas bester Fußballer scheiterte am übermenschlichen Robert Almer. Der Österreicher, der bis zur 36. Minute die meisten Ballkontakte zu verzeichnen hatte. Als Tormann!
Wir brauchen gar nicht drüber reden, dass auch wir zu Chancen gekommen sind - die Portugiesen hatten gefühlt hundert mehr. Eckballstatistiken sind ja diesbezüglich sehr aussagekräftig: Da stand es nach dem Spiel 10:0 für Portugal. Aber wie schon im ersten Spiel scheitert Portugal trotz spielerischer Überlegenheit an einem zachen Hund von einem Gegner. (Mehr Paraden als Almer hat in der Statistik übrigens nur Islands Haldorsson, und ohne nachzuschauen vermute ich mal, das der Großteil davon aus dem Portugal-Match stammt.)

Österreich zeigte sich ähnlich wie im Ungarn-Spiel, zumindest was den Spielaufbau betrifft. Da und dort war der eine oder andere vielleicht noch einen Tick besser (Arnautovic, Harnik), am Ende aber bleiben eine katastrophale Passstatistik und zahlreiche vergebene Halbchancen, an denen wir uns jetzt aufzurichten versuchen - während wir wohlgemerkt immer noch auf unser erstes Tor bei dieser EM warten. Generell bietet sich der Vergleich mit unserer Heim-EM an. Ein bitterer Auftakt gegen Kroatien (0:1, viele vergebene Halbchancen), ein geschenktes Tor zum 1:1-Ausgleich gegen Polen (das Pendant war gestern der verschossene Elfer von Ronaldo), und vor dem "Endspiel" gegen Deutschland schien plötzlich alles möglich. Woher man damals den Optimismus nahm, weiß ich genauso wenig wie jetzt. Wir haben das letzte Spiel letztlich "zwar knapp, aber deutlich" verloren.
Uns fehlt eigentlich jetzt nur noch das Tor, und das muss gegen Island irgendwie her!

Unser Spiel war gestern ärgerlich und widerlich. Es ist eine Qual, so etwas durchsitzen zu müssen, vor allem, weil das ganze Match mit jeder Minute eine noch größere Schieflage bekam. Der Ball rollte ja nur noch Richtung Österreichisches Tor. Doch die Portguiesen machten es nicht. Daher bekam man um Minute 60 das eigenartige Gefühl, das Spiel könne jetzt so weit sein, dass sich die Österreicher ein unverdientes Tor verdient hätten. Ein sinnloser Zufallskonter, ein Eigentor von Portugal, irgendwas, damit dieses Nichts endlich aufhört Nichts zu sein, und dem Spiel aus österreichischer Sicht endlich irgendeine Bedeutung, irgendein Sinn zukommt.

Da verließ der heilige Alaba das Feld. Marcel Koller hat das größtmögliche Sakrileg begangen, und es war nur konsequent. Als Fußball-Österreich seinen Heiligen vom Feld marschieren sah, wusste man: jetzt können wir wirklich verzweifelt sein, uns der Verzweiflung vollends hingeben, uns in ihr baden.
Unsere größte Hoffnung schien zu sein, dass Portugal ja versagen könnte. Dieses Haar im warmen Wind einer sehr fernen Hoffnung: "Vielleicht passiert ja irgendetwas, und sie versagen!", so dachte man.

Und dann versagte Portugal. Noch besser: Ronaldo versagte. Und wie!
Es wäre kitschig gewesen, hätte Almer den Elfmeter (der ja eigentlich auch nicht gerechtfertigt war, aber wurscht) auch noch gehalten. So tat es mehr weh, denn Ronaldo scheiterte an sich selbst und dem Pfosten. Und er schien damit endgültig gebrochen - nach so vielen hochkarätigen Chancen, die einer wie er normalerweise der Reihe nach nutzt. Dann auch noch der Elfmeter, es war zum Haargel raufen! Seine Verzweiflung übertrug sich auf den Rest der Mannschaft, und Österreich erstarkte daran. Die Österreicher bemerkten nun, dass sie es tatsächlich schaffen könnten, Portugal einen Punkt abzuknöpfen und die Sache mit dem Achtelfinale doch noch irgendwie offen zu halten. Der Fußballgott - er hat uns dieses eine Mal das bisschen Glück geschenkt, das wir so oft nicht bekommen haben!

So ließ dieser Fußballgott die Totgeglaubten wieder einmal länger leben. Und als Marcel Koller dann den Hinterseer einwechselte, ging ein Strahlen durchs Stadion; bis man erkannte, dass es nicht der allseits geliebte Hansi mit den Fell-Moonboots war, sondern der Lukas. Doch Almers Aura überstrahlte gestern alles, ein Tor der Portugiesen war klar abseits - nichts wollte für sie klappen an diesem Abend im Prinzenpark: 61 gefährliche Angriffe, 23 Schüsse, 10 Ecken - alles Schall und Rauch! Almer stand, der Pfosten war sein Pfosten, Portugals Versagen sein Verdienst. Es war alles wie ein Wunder - das Wunder vom Prinzenpark. Für die nächsten paar Tage ist er unser Heiliger: Robert Almer, Torwart-Gott!



Wir können es aber auf gut Österreichisch auch so sagen:
"Offensiv hat der Almer gestern ja überhaupt nichts gebracht!"




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