Samstag, 3. Juli 2010

Menschliches - Allzumenschliches

Manchmal heißt Voetbal Totaal, dass das Spiel größer ist als seine Akteure. Ein totales Fußballerlebnis war das aber allemal, was wir gestern zu sehen bekamen.


Gott ist tot. Und damit auch seine Hand. Es gibt keine Hand Gottes mehr, denn Suárez' Rettungstat war höchst menschlich - allzumenschlich. Und Asamoah Gyan ist der tragische Held Afrikas, der ewige Elferschütze, einer der wenigen, denen es passiert ist, innerhalb weniger Minuten zwei Elfmeter schießen zu müssen, von denen einer verwertet wurde; leider war's der falsche, der wertlose. Die Gedanken flirren lose herum, wenn man sich an den gestrigen Fußballnachmittag und -abend erinnern will - allzu wirres Geflirre, das man irgendwie aufräumen muss, um zu verstehen, was da gestern passiert ist. Denn es war wohl einer der dramatischsten Fußballtage aller Zeiten.

Anfangen hat alles relativ harmlos am Nachmittag. Ein Spiel zwischen Niederlande und Brasilien, eigentlich so etwas wie ein kleines Finale, von dem viele behaupteten es käme zu früh, was ja ganz eigentlich ein Blödsinn ist, den für Spitzenspiele ist es nie zu früh und das langweilige Endspiel kommt immer früh genug. Dunga also, der Deutsche, gegen Bert van Marwijk, der bei dieser WM seine Mannschaft bisher immer hochdiszipliniert spielen ließ, kein Voetbal Totaal also bei den Holländern, kein Joga Bonito bei den Brasilianern. Aber totaler Fußball war es trotzdem, was wir da zu sehen bekamen. Ein Spiel, das in der ersten Hälfte zu sehr nach Brasilien ausgesehen hat, zu sehr nach einem klaren Sieg des Rekordweltmeisters. Holland ist da zu wenig eingefallen, der neue Abwehrmann Andre Ooijer ist erst irgendwann in Hälfte zwei im Team angekommen und folgerichtig stand es dann 1:0 für die Brasilianer. Und man dachte: Wenn denen jetzt nichts einfällt, dann wird das womöglich ein Kantersieg von Brasilien.

Die Holländer wären aber nicht die Holländer, wenn sie nicht irgendwann hergehen würden und sagen "So, jetzt spielen wir das mal anders", was sie dann in Hälfte zwei auch gemacht haben. Über links ging nicht viel, da war Kuyt zu sehr mit Defensivaufgaben beschäftigt, musste immer wieder auf den nach vorne staubenden Maicon aufpassen, denn hinter ihm hatte Gio van Bronckhorst alle Hände voll mit Dani Alves zu tun hatte, der wiederum hinten auf Kuyt aufpasste etc. Also musste man irgendwie mittig-rechts agieren und da kam von Robben in der ersten Halbzeit einfach zu wenig bzw. wurde der von Melo und Bastos mehr oder weniger aus dem Spiel genommen; auch zu durchsichtig seine vereinzelten Dribbelversuche. In Hälfte zwei allerdings war er aktiver und die Brasilianer wurden undisziplinierter, weshalb Robben ein Foul nach dem anderen herausholte. Das kostete Freistöße, von denen einer bekanntlich zum Torerfolg führte.

Ab dem 1:1 spielte Holland sicherer, lässiger und die Brasilianer wirkten immer zerfahrener und als dann noch das 2:1 fiel, wurde Brasilien nervös - weil sie dann auch einen Mann weniger hatten (Melo hat einmal zu viel gefoult) und es natürlich nicht gewohnt sind, einem Rückstand nachzulaufen. Sneijder traf beim 2:1 mit dem Kopf - das ist Holländisch für Abwehrfehler, denn ein 1,70 Mann darf kein Kopftor schießen, schon gar nicht bei den zwei Recken Lucio und Juan. Wenn man bedenkt, dass auch das 1:1 aus einem Abwehrfehler entstanden ist (Melo und der sonst so gute Julio Cesar konnten sich nicht darauf einigen, wer den Ball hat oder nicht hat). Jedenfalls spielten die Holländer das Spiel nach Hause und schickten den Rekordweltmeister heim. Wenn man die Bilder gesehen hat, wie Menschen in Enschede ganz in Orange vor Freude weinen und wie Brasilianer an der Copa Cabana traurig die Köpfe in den von Tränen nassen Sand stecken, dann weiß man wieder, wie viel dieser seltsame Sport bewegen kann, wie lächerlich glücklich er machen und wie viel Niedergeschlagenheit er mit sich bringen kann.

Nach dem Spiel geht man im Holland-Trikot durch die Straßen und überall lachen einen die Leute ins Gesicht, jeder freute sich mit den Oranjes mit. Ungläubig schüttelten in verschiedenen Lokalen die Leute die Köpfe, fragten einander: "Hast du das Spiel gesehen? Das war ja unglaublich!". Der häufigste Satz war aber vielleicht: "Wer hätte das gedacht?" Ja, wer hätte das gedacht, dass diese ein wenig zu sehr mit Bedacht spielenden Holländer den Brasilianern die Hexa vermasseln, Dungas System für gescheitert erklären und ein ganzes Land in Trauer stürzen? Solche Geschichten schreibt nur eine Weltmeisterschaft. Solche und noch wildere...

Denn das Abendspiel, das Duell zwischen Uruguay und Ghana, schien lange ein relativ uninspirierter Kick zu sein. Außerdem wusste man nicht recht, zu wem man halten sollte. Auf der einen Seite Uruguay, der zweimalige Weltmeister, was aber eigentlich gar nichts zählt, wenn der letzte Titel schon 60 Jahre her ist. Auf der anderen Seite Ghana, die beste und deshalb zurecht letzte im Turnier verbliebene afrikanische Mannschaft. Beides hätte seinen Reiz, beiden hätte man den Einzug ins Halbfinale und das Scheitern an den Niederlanden gegönnt. Aber irgendwie war auch alles egal, nur kam irgendwann die Erkenntnis, dass es sich ja um ein Viertelfinalspiel handelte und es daher einen Sieger geben müsse. Den sollte es aber an diesem Abend nicht geben, auch nicht nach Verlängerung, auch nicht nach Elfmeterschießen.

Gegen Ende des Spiels bäumte sich Ghana noch einmal so richtig auf und man war beeindruckt ob des Kampfgeistes dieser Mannschaft. Auch Uruguay musste sich nicht verstecken, machte aber viele Fehler und man hatte das Gefühl, die Luft ist da schon raus. Man hatte sich schon auf ein Elferschießen eingestellt, sowohl Uruguayer als auch Zuseher. Nur die Ghanaer wollten das noch nicht ganz wahrhaben und versuchten bis zuletzt alles.

Dann waren die 120 Minuten vorbei und es gab noch einen Freistoß, der zu einem Corner führte. Letzte Aktion, da waren wir uns alle sicher. Geht da noch was? Dann hörte man nur noch "uuh" "aah" und "ööh": Zwei, drei Mal schoß Ghana nach dem Eckball auf Tor und jedesmal konnte der Ball noch irgendwie von der Linie gekratzt werden, da mal ein Tormannhandschuh, irgendwo ein Fuß und ganz zum Schluss traf der Kopfball von Adiyiah die Hand von Luis Suárez. Oder? Nein, die Hand von Suárez traf den Ball und zwar ganz absichtlich. Suárez bewahrte mit einem taktischen Torraub sein Team vor dem sicheren Aus! Die Menge schrie, keiner konnte fassen, was da gerade geschieht. Elfmeter für Ghana in der aller aller allerletzten Sekunde! Suárez bekommt natürlich die Rote, aber das ist ihm egal, das ist jedem egal und auf dem Weg in die Kabine bekommt er gerade noch mit, wie Asamoah Gyan, der geübteste und bisher sicherste Elferschütze des Turniers, den Matchpoint, den entscheidenden Strafstoß in den südafrikanischen Nachthimmel schießt. Fassungslosigkeit, Geschrei ringsherum. Kein Mensch weiß ob er lachen oder weinen soll, alle starren nur geschockt auf die Leinwand, sehen das verzweifelte Gesicht Gyans, sehen Suárez, der sich freut wie ein Schulbub, dass seine Wahnsinnsaktion tatsächlich aufgegangen ist - er hat mit seinem Handspiel sein Team im Turnier gehalten. Jetzt gibt es Elfmeterschießen.

"Sowas hab ich noch nie erlebt!", "Was ist denn da los?", "Das ist unglaublich, das ist einfach unglaublich!", die Zuseher sind sichtlich überfordert. Hat Ghana den Sieg verschenkt oder wurde er ihnen gestohlen? War Suárez' Handspiel eine bodenlose Frechheit oder allzu menschlich. Wer hätte den Ball nicht aufgehalten in dieser Situation? In einem Viertelfinale bei der WM, wo es um Sein oder Nichtsein geht? Dann die Frage, was denn jetzt nun sensationeller wäre. Wenn Ghana trotzdem gewinnen würde? Oder wenn Uruguay durch diese Aktion weiterkommt? Nein, jetzt sind alle erstmal für Ghana. Und wer tritt als erster Schütze für die Afrikaner an? Es ist Asamoah Gyan, der noch Augenblicke zuvor den Matchball vergeben hat. Nun ist er im Begriff, den vierten Elfmeter bei dieser WM-Endrunde zu treten. Kann er es wenigstens wieder ein bisschen gut machen?

Und hier kommt die unglaubliche Geschichte: Dieser Gyan muss gute Nerven haben und Eier aus Stahl. Er verwandelt den Elfmeter - im wahrsten Sinne des Wortes. Er zaubert ihn ganz unbeeindruckt, als ob nichts gewesen wäre, ins rechte Kreuzeck - besser kann man einen Elfer nicht schießen. Angesichts der Vorgeschichte halte ich das für eine übermenschliche Tat - mehr Gewicht kann man als Schütze gar nicht auf den Schultern tragen. Und trotzdem bleibt es nur ein schwacher Trost. Es war der falsche Elfmeter, den er getroffen hat. Denn für seine Teamkollegen ist die Last zu schwer, sie scheitern kläglich an Muslera und Uruguay steht im Halbfinale.

Ist Suárez ein Betrüger? Oder war seine Aktion genial? Ist Gyan der tragische Held? Muss er uns leid tun? Ich weiß es nicht. Niemand weiß irgendwas, denn diese paar Minuten gestern abend, das war absoluter Irrsinn, fußballerischer Wahnsinn, noch nie dagewesene Spannung, Tragik und Enttäuschung, Freude und Euphorie - es war alles zusammen. Zu viel für einen Einzelnen, zu viel auch für die Masse beim Public Viewing. Was bleibt ist Rat- und Fassungslosigkeit. Die Erkenntnis, dass Fußball so hässlich und schön zugleich sein kann, dass zwischen Sein und Nichtsein oft nur die Hand eines allzumenschlichen Menschen und nicht die eines Gottes entscheidet.

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